Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
Vom Netzwerk:
Johns Hammerschlägen lauschte.
    Kein größeres Wagnis, auf der ganzen weiten Welt.

[home]
    15. Kapitel
    W ie dunkles Silber schimmerte das Watt im Sternenlicht. Noch lange nach Sonnenuntergang nutzte John die Ebbe, um die letzten Bruchstücke des Findlings einzusammeln und aus dem flachen Wasser auf den Strand zu hieven. Er ließ den größten Felsbrocken knapp unterhalb der Flutlinie zurück und trug die kleineren zu dem hohen Gras auf der Böschung des Strandes. Ausschließlich von Gefühlen und nicht vom Verstand geleitet, schuf er mit seiner Arbeit eine greifbare Manifestation seiner innersten Empfindungen: einen Kreis, der nach und nach Gestalt annahm.
    Seine Muskeln schmerzten vor Anstrengung, und er wusste, dass der Lohn in einem ausgiebigen Bad im Meer und einem erholsamen Schlaf bestehen würde. Träume und Arbeit waren seine Zuflucht. Selbst in seinen tiefsten Träumen setzte er die Arbeit an der Skulptur fort. Er passte die Fragmente ein, ordnete jedes einzelne Bruchstück so an, dass sie sich zu einem neuen, anders gearteten, harmonischen Ganzen fügten.
    In einigen Träumen war Honor bei ihm, an seiner Seite. Sie besaß ein ausgeprägtes Gespür für Formen und Kompositionen; er hatte sich immer gewünscht, dass sie ihn an die Orte seiner Arbeit begleitete. Im Laufe der Jahre hatte er dabei so manches atemberaubende Fleckchen Erde zu Gesicht bekommen, vor allem auf der nördlichen Halbkugel: Grönland, Labrador, die Hudson Bay, den Denali-Nationalpark in Zentralalaska, die Magdaleneninseln in der Magellanstraße. Doch sein Wunsch, sie bei sich zu haben, hatte sich nie erfüllt, und immer gab es dafür einen Grund.
    In erster Linie die Mädchen. Selbst als Bernie angeboten hatte, sie für die Dauer ihrer Abwesenheit im Konvent unterzubringen, wurde nichts daraus. Honor hatte stets Einwände: Sie könne nicht verantworten, ihre Töchter aus ihrem gewohnten Alltag zu reißen, die Reise sei zu teuer oder sie befürchte, John abzulenken; wenn er also konzentriert arbeiten könne, sei er umso früher wieder zu Hause.
    Bis Irland hatte John sie nie dazu gedrängt, ihre Meinung zu ändern. Er verstand, dass niemand aus seiner Haut konnte: Seine eigene Neigung, immer wieder gnadenlos bis an die eigenen Grenzen zu gehen, war der Gegenpol zu Honors fürsorglicher, bodenständiger Art. Und obwohl seine Projekte mit ihren gigantischen Ausmaßen Aufmerksamkeit erregten, war sie zehnmal wagemutiger als er: Ihre Porträts offenbarten so viel Herz und Gefühlsnuancen, dass es schien, als besäße sie einen Röntgenblick, mit dem sie die Fassaden der Menschen durchdrang.
    Er wälzte einen weiteren großen Felsblock an seinen Platz und trat einen Schritt zurück, um den Steinkreis, der im Entstehen war, in Augenschein zu nehmen. Es war ein gutes Gefühl, wieder kreativ zu arbeiten. Er griff zur Kamera, um die derzeitige Anordnung der Steine im Bild festzuhalten. In Irland hatte er die Chance vertan, die einzelnen Entwicklungsstadien seiner Arbeit zu fotografieren, und das sollte nie wieder geschehen. In rund hundert Meter Entfernung brandeten die Wellen gegen die Sandbank, und einen Moment lang glaubte er, etwas gehört zu haben.
    »John?«
    Er sah auf, suchte den Strand mit den Augen ab. Ein Schatten oben auf der Böschung fesselte seine Aufmerksamkeit. Honor – ihre Silhouette war in Licht getaucht, das von der Akademie herüberschien, und sein Herz begann zu klopfen.
    »Alles in Ordnung? Ist etwas mit Agnes?«, rief er.
    »Nein, alles bestens.«
    Er ging ihr entgegen, über den hinteren Rand des Steinkreises, vorbei an dem Treibholz, das er im Verlauf der letzten Woche aufgestapelt hatte. Sie bahnte sich den Weg über den schmalen Pfad, der mitten durch die Strandrosen führte, und blieb am Rand des Deiches stehen. Mit einem Satz sprang er auf den Granitfelsen, der an dieser Stelle zutage trat, um ihr die Hand zu reichen.
    »Danke.« Sie lachte leise.
    »Was ist daran so komisch?«, fragte er, erschrocken und gleichermaßen erfreut, sie lachen zu hören.
    »Du hast immer geglaubt, du müsstest mir helfen, im Dunkeln den Weg zu finden, obwohl ich den Strand genauso gut kenne wie du.«
    »Wir waren oft am Abend hier.«
    »Stimmt.«
    Wie oft war er mit Honor an diesen Strand gegangen – er dachte an den Steinkreis, der ihre gemeinsame Geschichte symbolisierte, und spürte, wie ihn ein Stromstoß durchfuhr, ihm unter die Haut ging. Ihre Hand fühlte sich klein und kühl an. Er hielt sie fest und wünschte sich, dass

Weitere Kostenlose Bücher