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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Möglicherweise betete sie, doch als sie den Blick hob, sah Honor, dass sie errötet war.
    »Unser lieber Tom vergisst sich zuweilen«, sagte Bernie. »Er vergisst, dass sich die Zeiten und die Menschen ändern. Oder dass ich mein Gelübde abgelegt habe und seine Arbeitgeberin bin.«
    »Vermutlich meint er, dass Freundschaften ewig währen.«
    »Was nicht zwangsläufig der Fall sein muss, nicht wahr?«
    »Wie meinst du das?«
    »Wenn Freundschaften wirklich ewig währen würden, dann wären John und du jetzt zusammen. Ihr wart die besten Freunde, die man sich nur vorstellen kann.«
    »Wir waren alle eng befreundet. Wir beide, und John und Tom, noch bevor ich mich in deinen Bruder verliebt habe und Tom sich in dich verliebt hat.«
    »Wir zwei sind immer noch eng befreundet. Hoffe ich zumindest«, Bernie sah sie mit einem sanften Lächeln an, für das Honor dankbar war.
    »Freut mich, dass du das sagst, Bernie. Danke.«
    »Also, unter Freundinnen, was ist los mit John und dir?«
    »Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«
    Bernie verwandelte sich auf der Stelle in Schwester Bernadette Ignatius, die Nonne, die bei ihren Studenten gefürchtet war: die alles wusste, alles sah und von allen erwartete, dass sie höchsten Ansprüchen genügten. Sie neigte ihren Kopf, ihre Augen verengten sich und die beiden Frauen maßen sich mit Blicken, ein Kräftemessen, das Honor verlor.
    »Hör dir an, wie er da draußen wütet«, sagte Bernie.
    »Ich weiß.«
    »Nicht genug, dass er den Felsen zerstört hat. Er will, dass alle wissen, dass er da ist. Dass du nicht vergisst, dass er nach Hause zurückgekehrt ist.«
    »Wie könnte ich? Was willst du von mir hören? Die Situation ist ziemlich verfahren.«
    »Ja. Das gebe ich zu. Kein Wunder, angesichts dessen, was ihr alle durchgemacht habt.«
    »Weißt du, was Regis neulich zu mir gesagt hat?«, fragte Honor beklommen.
    »Erzähl.«
    »Dass Agnes nach einer Vision Ausschau hält. Was glaubst du, woher sie diese Idee hat?«
    »Gute Frage.« Bernie trank ihr Glas auf einen Zug leer. Sie erhob sich von ihrem Sessel, strich ihre Ärmel und das lange schwarze Gewand glatt und ordnete ihren Schleier. Dann umrundete sie zielstrebig die Staffelei, um einen Blick auf Honors Leinwand zu werfen.
    Honor versuchte, das Bild mit Bernies Augen zu sehen: einen Mann, der Jeans und eine grobe Jacke trug, mit starken Händen, gequälten Augen, vornübergebeugt durch das Gewicht eines Kindes, das er trug.
    Honor hatte die Gesichtszüge des Mädchens absichtlich verschwommen gemalt, so dass offenblieb, ob es sich um Agnes oder um Regis handelte. Die Landschaft zeigte das Meer, Felsen und Hügel. In der Ferne waren Steinmauern zu erkennen, und das Grün ließ auf Irland schließen – oder die Küste von Connecticut. Und Sisela hockte auf der Mauer, die weiße Katze mit den grünen Augen, die alles sahen.
    »Das ist John«, sagte Bernie.
    »Ja.«
    Bernie betrachtete das Bild. »Und Sisela, und eines der Mädchen …«
    Honor nickte. Bernie blickte sie an; Honor sah den Schmerz in ihren Augen, und irgendetwas sagte ihr, dass er nichts mit John und ihr zu tun hatte.
    Bernie reichte ihr den Umschlag. Auf der Vorderseite befand sich eine spinnwebenfeine Zeichnung von einer Sandburg am Meeresrand … und in der Ferne ragte ein Ungeheuer aus den Wellen auf.
    »Wirf nicht alles weg«, sagte Bernie.
    »Bernie …«
    »Jede Wahl, die man trifft, hat Folgen. Ich weiß das besser als jeder andere. Lies den Brief, der im Umschlag steckt und den du mir einmal geschrieben hast, dann weißt du vielleicht, was ich meine. Ich bin sicher, du wirst dich erinnern. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass du es vergessen hast.«
    »Hast du dich jemals gefragt, ob du deine Vision falsch gedeutet haben könntest, Bernie? Dass sie dir in Wirklichkeit etwas ganz anderes sagen wollte?« Honors Haut prickelte bei der Erinnerung an den Tag, als Bernie ihr von der Marienerscheinung erzählt hatte. Ihr hatten die Haare zu Berge gestanden, vor allem, als ihr klar wurde, was das für Tom bedeuten würde, für sie alle.
    »Kein Mensch ist unfehlbar«, räumte Bernie ein. »Lies den Brief. Damals warst du ziemlich klug.«
    Honor hielt den Umschlag in der Hand und schloss ihre Schwägerin in die Arme.
    Natürlich erinnerte sie sich; sie kannte den Inhalt des Briefes auswendig. Während sie Bernie umarmte, dachte sie an die Wahl, die jeder von ihnen getroffen hatte. Es gab kein größeres Wagnis als die Liebe, dachte sie, während sie

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