Wie soll ich leben?
Montaigne «mit einer noch wesentlich länger dauernden beantwortete». Und in Schaffhausen überreichte man ihm Wein, was «wiederum nicht ohne mehrere höchst feierliche Ansprachen beider Seiten» abging.
Auf italienischem Boden, den die Reisegruppe am 28. Oktober 1580 erreichte, waren Montaignes rhetorische Fähigkeiten weniger gefordert. Doch je näher sie dem Land kamen, desto mehr fragte sich Montaigne, ob er wirklich dorthin wollte. Italien, das Zentrum der europäischen Kultur, war das große Reiseziel. Venedig und Rom hatten ihn schon sein Leben lang gelockt, doch jetzt stellte er fest, dass ihn weniger bekannte Orte sehr viel mehr reizten. Wenn es nach Montaigne gegangen wäre, bemerkte der Sekretär, als sie die Alpen erreicht hatten, hätte er sich «nach Krakau oder Richtung Griechenland» statt nach Italien gewendet, vielleicht einfach nur deshalb, um noch länger unterwegs zu sein. Aber er stieß auf den Widerstand seiner Begleiter und erklärte sich schließlich bereit, den Weg nach Italien einzuschlagen wie alle anderen auch. Und bald ging es ihm wieder besser. «Nie erlebte ich ihn weniger abgeschlagen, nie weniger über seine Schmerzen klagend», schrieb jetzt der Sekretär, «als wenn sein Geist im Gasthaus oder unterwegs auf das Kommende gespannt war und darauf, welche (stetseifrig gesuchte) Gelegenheiten zu Unterhaltungen mit den Fremden es ihm böte. Ebendies, glaube ich, lenkte ihn von seinem Leiden ab.»
Venedig, ihr erster längerer Aufenthalt in Italien, bestätigte mit seinem Menschengewühl Montaignes Befürchtung, die Stadt sei von Touristen überlaufen. Nach Auskunft des Sekretärs fand Montaigne Venedig «nicht ganz so bewundernswert», wie er es sich vorgestellt hatte. Dennoch besichtigte er die Stadt durchaus begeistert, er mietete eine Gondel, traf sich mit allen möglichen interessanten Leuten und ließ sich von der bizarren Geographie der Stadt, ihrer kosmopolitischen Bevölkerung und ihrem politischen Status als unabhängige Republik in Bann schlagen. Venedig schien eine politische Faszination zu besitzen, die anderen Städten fehlte. Die Republik beteiligte sich nur dann an militärischen Auseinandersetzungen, wenn es etwas zu gewinnen gab, und ihre Regierung war gerecht. Beeindruckt war Montaigne auch von der Würde und dem Luxus, in dem die Kurtisanen lebten, vor aller Augen ausgehalten von einheimischen Adligen und allseits respektiert. Er lernte eine der berühmtesten kennen, Veronica Franco, die einen Inquisitionsprozess überstanden und einen Band mit Briefen, die Lettere familiari e diversi veröffentlicht hatte, den sie Montaigne persönlich überreichte.
Dann reiste die Gruppe nach Ferrara weiter, wo Montaigne Torquato Tasso besuchte, und anschließend nach Bologna, wo man einem Fechtkampf beiwohnte. In Florenz hatten «die Herren wieder einen Spaß», als sie «aus einer schier unendlichen Zahl im Boden befindlicher kleiner Löcher mit Wasserstrahlen bespritzt» wurden, so dünn «wie feinste Regenschleier».
Rom rückte näher. Am Tag, bevor sie die Stadt erreichten, dem 3. November 1580, war Montaigne so aufgeregt, dass er schon drei Stunden vor dem Morgengrauen alle aus dem Bett scheuchte, um die letzten Kilometer hinter sich zu bringen. Von seinem Weg aus machte die Stadt keinen besonderen Eindruck. «Die ganze Landschaft bot einen unfreundlichen und felsigen Anblick, voll tiefer Klüfte.» Doch dann entdeckten sie die ersten Ruinen, und endlich lag die große Stadt vor ihren Augen.
Die Erwartung wurde etwas gedämpft, als sie am Stadttor eine langwierige bürokratische Prozedur über sich ergehen lassen mussten.Ihr Gepäck wurde «bis zu den kleinsten Nebensächlichkeiten» durchwühlt. Die Beamten verbrachten unendlich viel Zeit damit, Montaignes Bücher zu prüfen. Rom stand unter der Herrschaft des Papstes: Gedankenverbrechen wurden hier sehr ernst genommen. Ein Stundenbuch wurde nur deshalb konfisziert, weil es in Paris und nicht in Rom veröffentlicht worden war, ebenso einige katholische theologische Schriften, die Montaigne aus Deutschland mitgebracht hatte. Er könne von Glück reden, nichts Verdächtigeres bei sich gehabt zu haben, meinte er. Unvorbereitet auf eine solche strenge Überprüfung, hätte er leicht auch wirklich ketzerische Bücher mit sich führen können, da er sich «auf seiner Reise durch dieses Land [Deutschland] über dessen Glaubenskämpfe so eingehend informiert hatte».
Auch ein Exemplar seiner Essais nahmen die Beamten zur
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