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Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
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sich mit den alten Freunden Jacques-Auguste de Thou und Étienne Pasquier getroffen, der die lästige Angewohnheit hatte, Montaigne in seine Gemächer zu entführen und ihm alle stilistischen Fehler der neuesten Ausgabe der Essais vor Augen zu führen. Montaigne hörte ihm höflich zu, ignorierte aber seine Ratschläge; so hatte er es schon gegenüber den Inquisitionsbeamten gemacht.
    Pasquier, emotional unausgeglichener als Montaigne, verfiel in eine schwere Depression, als er von der Ermordung des Herzogs von Guise hörte. «O entsetzliches Schauspiel!», schrieb er an einen Freund. «Ich trage schon lange eine melancholische Grundstimmung in mir, die ich jetzt in deinen Schoß erbrechen muss. Ich fürchte, ich glaube, dassich jetzt das Ende unserer Republik mitansehen muss […] der König wird entweder seine Krone verlieren oder erleben, wie sein Reich auf den Kopf gestellt wird.» Montaigne neigte nicht zu so dramatischen Worten, aber auch er muss entsetzt gewesen sein. Dieser kaltblütige Mord zur falschen Zeit weckte ernste Zweifel an der moralischen Integrität des Königs, von dem sich die politiques doch erhofften, er werde dem Land endlich Stabilität bringen.
    Heinrich III. hatte offenbar geglaubt, ein klarer Schnitt würde ihn aller seiner Sorgen entledigen, ähnlich wie Karl IX. im Vorfeld der Massaker der Bartholomäusnacht. Doch der Tod des Herzogs führte zu einer weiteren Radikalisierung der Ligisten, und ein neues revolutionäres Organ in Paris, der Rat der Vierzig, erklärte Heinrich zum Tyrannen. Die Sorbonne fragte beim Papst an, ob es theologisch erlaubt sei, einen König zu töten, der seine Legitimität als Herrscher verloren hat. Der Papst verneinte, doch Prediger und Juristen der Liga argumentierten, dass jeder, der sich von Eifer beseelt und von Gott dazu berufen fühle, diese Tat vollbringen dürfe. «Tyrann» – der Begriff lag zwar schon immer in der Luft, aber im Unterschied zu La Boétie in seiner Schrift Von der freiwilligen Knechtschaft riefen die Prediger nicht zu passivem Widerstand auf. Sie erließen eine Fatwa. Wenn Heinrich der Stellvertreter des Teufels auf Erden war, wie eine Flut von Propagandaschriften behauptete, dann war dessen Ermordung eine heilige Pflicht.
    Die 1589 in Paris ausbrechenden Unruhen machten vor nichts und niemandem Halt. Der protestantische Chronist Pierre de L’Estoile stellte fest, die Stadt sei verrückt geworden:
    Seinen Nachbarn zu überfallen, seine nächsten Verwandten zu töten, Altäre zu plündern, Kirchen zu entweihen, Frauen und Mädchen zu vergewaltigen und jedermann auszurauben ist heute gängige Praxis eines Ligisten und untrügliches Zeichen eines glühenden Katholiken geworden: mit der Religion und der Messe auf den Lippen, aber Atheismus und Raub im Herzen und Mord und Blut an den Händen.
    Überall gab es böse Omen. Selbst Montaignes sonst so bedächtiger Freund Jacques-Auguste de Thou sah eine Schlange mit zwei Köpfenaus einem Holzstoß kriechen und nahm dies als ein schlechtes Zeichen. Als es so schien, als könne es gar nicht mehr schlimmer kommen, starb am 5. Januar 1589 Katharina von Medici. Nach dem Tod seiner Mutter stand Heinrich nun ganz allein da. Nur seine schlecht bezahlten Soldaten und jene politiques , die, ihren Grundsätzen verpflichtet, noch an seiner Seite standen, schützten ihn jetzt noch vor den hochschlagenden Wellen des Hasses.
    Wie immer zogen diese politiques auch diesmal den Argwohn auf sich. Da half es auch nichts, dass Montaigne in kühlem, auf Ausgleich bedachtem Ton schrieb, die Liga und die radikalen Hugenotten seien jetzt nahezu ununterscheidbar:
    Nehmen wir die ernste Gewissensfrage als Beispiel, ob es dem Untertan erlaubt sei, sich zur Verteidigung seines Glaubens gegen seinen Fürsten mit bewaffneter Hand zu erheben: Erinnert ihr euch, welche Mäuler vergangnes Jahr deren Bejahung zum Eckpfeiler ihrer Partei machten und welche andern ihre Verneinung? Nun hört euch an, von welcher Seite heute die eine, von welcher die andre Haltung lauthals angepriesen und eingeübt wird! Klirren die Waffen für diese Sache hier etwas weniger mörderisch als für jene dort?
    Und was die Idee des von Gott gebilligten Tyrannenmordes anginge: Wie könne jemand glauben, dass er durch die Ermordung eines Königs in den Himmel komme? Wie könne er sich «auf dem sichersten Weg zu unsrer Verdammung» Erlösung erhoffen? Irgendwann in dieser Zeit verlor Montaigne auch noch sein letztes bisschen Geschmack an der Politik.

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