Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie soll ich leben?

Wie soll ich leben?

Titel: Wie soll ich leben? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Bakewell
Vom Netzwerk:
entscheidenden Impuls für die letzten Jahre seines Lebens und Schreibens.
    Marie de Gournay wiederum kann nicht der Vorwurf gemacht werden, sie hätte ihre alliance kleingeredet. In der Vorrede zu den von ihr nach Montaignes Tod herausgegebenen Essais stellte sie sich als die Adoptivtochter des Mannes vor, «den Vater zu nennen ich die Ehre habe». Und sie fügte hinzu: «Ich finde, Leser, keinen anderen Namen für ihn, denn ich bin nur insofern ich selbst, als ich seine Tochter bin.» Und in einem ihrer eigenen Werke schrieb sie:
    Wen es überrascht, dass das Wohlwollen, welches uns verbindet, größer ist als das zwischen echten Vätern und Kindern – der ersten und engsten natürlichen Bindung –, obwohl wir nur dem Namen nach Vater und Tochter sind, der soll einmal versuchen, in sich selbst die Tugend zu kultivieren, um sie in einem anderen wiederzufinden; dann wird er sich nicht mehr darüber wundern, dass in der Harmonie der Seelen mehr Stärke und Kraft liegt als in der Natur.
    Was Montaignes leibliche Tochter Léonor von dem Anspruch hielt, eine solche Verbindung stehe höher als die biologischen Familienbande, darüber kann man nur spekulieren. Man könnte es ihr nicht verdenken, wenn sie sich ausgegrenzt gefühlt hätte, aber das war offensichtlich nicht der Fall. Sie und Marie de Gournay wurden in späteren Jahren gute Freundinnen, und Gournay nannte sie ihre «Schwester». Wenn Gournay von «größerem Wohlwollen» sprach, dachte sie wahrscheinlich an die Intensität ihrer Verbindung zu Montaigne und nicht daran, eine Rivalin auszustechen. Der Einzige, den sie als ihren Konkurrenten betrachtete, war der längst verstorbene La Boétie, mit dem sich zu vergleichen sie nicht zögerte. Ihre Widmung endete mit einem Zitat aus La Boéties Gedichten: «Man braucht keine Angst zu haben, dass die nachfolgenden Generationen nicht bereit sein werden, unseren Namen in die Reihe der berühmten Freundespaare einzureihen, wenn nur das Schicksal es will.» Und in ihrer Vorrede zu den Essais beklagte sie: «Nur vier Jahre ist er mir geblieben, nicht länger als ihm La Boétie.»
    Diese Passage enthält auch eine merkwürdige, wenngleich vielleicht aufschlussreiche Bemerkung über Montaigne: «Wenn er mich lobte, gehörte er mir.» Und offenkundig lobte er sie. Ihre Ausgabe der Essais enthält einige Zeilen, in denen Montaigne von ihr als seiner geliebten fille d’alliance spricht, zu der er eine mehr als väterliche Liebe hege (was auch immer das heißen mag) und der er sich in seiner Zurückgezogenheit «so tief verbunden» fühle, als «wäre sie einer der besten Teile meines eignen Wesens». Er fährt fort:
    Für mich gibt es nur noch sie auf der Welt. Wenn Jugend je vielversprechend war, dann diese. Ihre Seele wird eines Tages der hochherzigsten Dinge fähig sein, unter andern der Vollendung unsrer unverbrüchlichen Freundschaft. (Niemand ihres Geschlechts hat sich bisher, wie wiraus den Büchern wissen, zu einer solchen erheben können.) Ihr aufrichtiger und zuverlässiger Charakter gewährleistet das jetzt schon, und ihre Zuneigung zu mir ist von derart überströmender Herzlichkeit, dass nichts zu wünschen bliebe, wenn nicht, dass sie von der Furcht weniger grausam gequält würde, ich könnte, weil ich bei unsrer ersten Begegnung schon fünfundfünfzig Jahre alt war, in Bälde dahinscheiden.
    Schließlich spricht er in warmen Worten von ihrem fundierten Urteil über die Essais – «man bedenke: als Frau, und in diesem Jahrhundert, und so jung, und als Einzige in ihrer Gegend» – und von der «außergewöhnlichen Heftigkeit, mit der sie […] in Liebe zu mir entbrannte und mich kennenzulernen wünschte».
    Diese Sätze erregten Misstrauen, da sie nur in der von Gournay betreuten Ausgabe auftauchen, nicht in dem sogenannten Bordeaux-Exemplar der Essais , das Montaigne selbst mit Anmerkungen versehen hatte. Die Frage liegt nahe, ob sie diese Bemerkungen erfunden hat. Sie klingen mehr nach Gournay als nach Montaigne, und in einer späteren Ausgabe strich sie selbst Teile daraus. Andererseits enthält das Bordeaux-Exemplar Spuren von Klebstoff an der Stelle, wo sich diese Zeilen finden, dazu ein kleines Kreuz von Montaignes Hand, mit dem er gewöhnlich einen Einschub markierte. Ein eingeklebter Zettel könnte herausgefallen sein, als das Exemplar im 17. und 18. Jahrhundert neu gebunden wurde. So umstritten die Echtheit dieser Passage ist, es gibt keinen Grund, an Montaignes Zuneigung für seine Schülerin, an

Weitere Kostenlose Bücher