Wie soll ich leben?
der Haarnadel, der Nieswurz und allem anderen zu zweifeln.
Nach jenem ersten Jahr jedoch, nach dem Anfall von Arbeitswut in der Picardie, standen Marie de Gournay und Montaigne nur noch schriftlich miteinander in Kontakt. Im April 1593 schrieb Gournay an Justus Lipsius, einen anderen ihrer literarischen Freunde, sie habe Montaigne seit fast fünf Jahren nicht mehr gesehen. Doch sie korrespondierten regelmäßig, denn zum Zeitpunkt ihres Briefes an Lipsius war sie besorgt, weil Montaigne ihr seit sechs Monaten nicht mehr geschrieben hatte. Sie machte sich zu Recht Sorgen: Montaigne war inzwischen gestorben, und die Nachricht eines seiner Brüder hatte sie nicht erreicht. Lipsius musste ihr die traurige Nachricht übermitteln. Er tat es behutsam, indem er ihr antwortete: «Der, den Sie Ihren Vater nannten,ist nicht mehr auf dieser Welt. Nehmen Sie daher mich als Ihren Bruder an.» Und sie schrieb betroffen zurück: «So, wie andere heute mein Gesicht nicht wiedererkennen, so fürchte ich, dass Sie meinen Stil nicht wiedererkennen werden, so tief hat mich der Verlust meines Vaters getroffen. Ich war seine Tochter, ich bin sein Grab; ich war sein zweites Ich, ich bin seine Asche.»
Sie machte damals selbst eine schwere Zeit durch. Ihre Mutter starb 1591, und Marie erbte große Schulden und hatte jetzt auch die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister zu tragen. Da sie nicht des Geldes wegen heiraten wollte, begann sie, sich ihren Lebensunterhalt durch Schreiben zu verdienen – ein harter und für eine Frau höchst ungewöhnlicher Weg. Für den Rest ihres Lebens schrieb sie über alles, von dem sie sich einen Verkaufserfolg versprach: Gedicht- und Stilanalysen, Feminismus, religiöse Streitfragen, ihre eigene Lebensgeschichte. Auch aktivierte sie alle ihre Kontakte, unter anderem zu Justus Lipsius. Aber keiner war wichtiger als der Mentor, mit dem ihr Name für immer verbunden bleiben wird: Michel de Montaigne.
Den ersten großen Durchbruch brachte ihr der 1594 erschienene Roman Le Proumenoir de Monsieur de Montaigne (Der Spazierweg des Monsieur de Montaigne) . Inhaltlich hat der Roman mit Montaigne nichts zu tun, bis auf die Tatsache, dass er auf einer Geschichte beruht, die sie ihm erzählt hatte, als sie im Park des Familienschlosses spazieren gingen; das schreibt sie selbst im Widmungsbrief. Die literarische Vorlage für die tragische Liebesgeschichte entstammt fast vollständig dem Werk eines anderen Autors. Ihr Roman wurde zwar zu einem Verkaufserfolg, doch ihre eigentliche literarische Karriere begann mit dem Erscheinen der von ihr herausgegebenen großen und definitiven Ausgabe der Essais im Jahr 1595.
Die Idee, Montaignes Herausgeberin und Verwalterin seines literarischen Nachlasses zu werden, entstand offenkundig erst nach seinem Tod, als seine Witwe und Tochter ein mit Anmerkungen von seiner Hand versehenes Exemplar der Ausgabe von 1588 unter seinen Papieren fanden. Sie schickten es Marie de Gournay nach Paris. Vielleicht wollten sie lediglich, dass sie es an einen geeigneten Verleger übergab, aber Gournay sah darin einen großen editorischen Auftrag und machte sich an die Arbeit: eine gewaltige Aufgabe und so schwierig, dass sieselbst Herausgeber überforderte, die sehr viel erfahrener und besser gerüstet waren als Marie de Gournay. Bis heute herrscht in der wissenschaftlichen Forschung Uneinigkeit, so zahlreich sind die Varianten, so kompliziert ist der Text und so groß die Schwierigkeit, sämtliche Bezüge und Anspielungen Montaignes zu identifizieren. Dennoch: Gournay meisterte ihre Aufgabe brillant. Vielleicht erlag sie der Versuchung und fügte die strittigen Zeilen über sich selbst hinzu, vielleicht sind sie aber auch authentisch. Insgesamt arbeitete Gournay sorgfältiger als die meisten Herausgeber ihrer Zeit. Bis heute überlieferte Exemplare der Erstausgabe der von ihr edierten Essais zeigen, dass sie noch in den Druckfahnen Korrekturen vornahm und auch nach der Veröffentlichung unermüdlich weiterkorrigierte – ein Zeichen dafür, wie sehr ihr daran lag, alles richtig zu machen.
Von nun an würde sie weniger Montaignes Tochter als vielmehr die Adoptivmutter seiner Essais sein. «Nachdem die Essais ihren Vater verloren haben», schrieb sie, «brauchen sie einen Beschützer.» Sie bereitete die Ausgabe vor, verteidigte und warb für sie und verfasste eine lange, kämpferische Vorrede, die jeglicher Kritik den Wind aus den Segeln nehmen sollte. Ihre Argumentation war weitgehend rational
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