Wie soll ich leben?
er.
Françoise und ihr Ehemann lebten in getrennten Bereichen des Schlosskomplexes. Montaigne zog sich in seinen, Françoise sich in ihren Turm zurück, den «Tour de Madame». (Er war im frühen 19. Jahrhundert ein Taubenschlag und stürzte später ein; heute ist nichts mehr davon erhalten.) Somit war das Hauptgebäude die Domäne von Montaignes Mutter, die bis 1587 im Schloss lebte, und die Türme bildeten für das junge Paar offenbar einen Rückzugsort, um einander – und Montaignes Mutter – aus dem Weg zu gehen. Montaigne äußert sich nicht über die Rolle, die seine Mutter in seinem Leben und im Leben seinerFrau spielte. Wenn er erwähnt, dass er abends mit seiner Familie Karten spielte, fehlt jeder Hinweis darauf, dass auch seine Mutter dabei war.
Ein tristes Bild, sich vorzustellen, dass die Familie über das ganze Anwesen verstreut lebte. Doch es muss auch heitere, unbeschwerte Tage gegeben haben, in jedem Fall brauchte sich niemand einsam oder unausgefüllt zu fühlen. Es wimmelte von Bediensteten, Handwerkern, Gästen und ihrem Gefolge; manchmal waren auch Kinder da. Montaigne saß gewiss nicht düster grübelnd in seinem Turm, er war gern unterwegs: «Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze; mein Geist rührt sich nicht, wenn meine Beine ihn nicht bewegen.» Und dass Männer und Frauen getrennte Bereiche des Hauses bewohnten, war zur damaligen Zeit normal. Neue oder modernisierte Wohngebäude wurden oft unter diesem Aspekt gestaltet. Im Jahr 1452 empfahl Leon Battista Alberti in seinem Werk De re aedificatoria (Über die Baukunst): «Mann und Gattin brauchen jeder ein getrenntes Schlafzimmer, und zwar nicht nur deshalb, damit die Frau beim Gebären oder sonstigen Übelbefinden dem Manne nicht lästig sei, sondern man wird auch im Sommer nach Belieben ungestörter schlafen können.» Auf Montaignes Anwesen waren die Räumlichkeiten der Ehegatten allerdings noch durch eine komplette Außengalerie getrennt, und Montaignes Turm war gleichzeitig seine Studierstube.
Kann man nach damaligen Maßstäben von einer guten Ehe sprechen? Einige Kommentatoren betrachteten sie als desaströs, andere als zeittypisch, ja sogar als gut. Unterm Strich scheint es eine leidlich erträgliche Ehe gewesen zu sein. Am besten bringt es wahrscheinlich Montaignes Bemerkung in den Essais auf den Punkt, die sein Biograph Donald Frame für aussagekräftig hält: «Wer glaubt, weil er mich meine Frau bald mit kühlen, bald mit verliebten Blicken anschauen sieht, nun folgern zu können, das eine oder das andre sei Verstellung, ist ein Dummkopf.»
Aufrichtige Zuneigung drückt sich wohl in Montaignes Entschluss aus, eine seiner frühesten Publikationen seiner Frau zu widmen: La Boéties Übersetzung von Plutarchs Trostbrief an die Gattin nach dem Tod ihres gemeinsamen Kindes. Widmungen an die eigene Ehefrau waren damals eher unüblich und wurden als kurios und unfein betrachtet. Montaigne meint dazu nur trotzig: «Lassen wir sie reden […], lebenwir, meine Frau, Ihr und ich, nach alter französischer Art.» Diese Bemerkung hat einen warmen Ton, und er fügt sogar hinzu: «Und weil ich sicherlich keinen Vertrauteren habe als Euch, so übersende ich Euch den Trostbrief Plutarchs an seine Frau.»
Wenn er für Françoise eine gewisse Zuneigung hegte, so entwickelte sie sich wahrscheinlich erst nach ihrer Heirat. Er war in den Stand der Ehe getreten wie ein Gefangener, der sich widerstandslos Handschellen anlegen lässt. «Von mir aus würde ich sogar der Weisheit, falls sie mich gewollt hätte, die Ehe ausgeschlagen haben. Doch was immer wir auch daherreden – Sitte und Brauch führen uns im gewöhnlichen Leben doch am Gängelband.» Er hatte nicht wirklich etwas dagegen, dass man diese Ehe für ihn arrangierte. Ohnehin hatte er oft den Eindruck, dass andere ein besseres Gespür besaßen als er. Dennoch musste er zur Ehe gedrängt werden, da er «gewiss schlechter für sie gerüstet und von größerem Widerwillen erfüllt war denn heute». Hätte er frei wählen können, hätte er nicht geheiratet. «Ausschweifende Naturen […] wie die meine, der jede Art von Bindung und Zwang zuwider ist, sind weniger für sie geeignet.» Später versuchte er aus der Situation das Beste zu machen und bemühte sich sogar um eheliche Treue – wie er selbst sagt, mit mehr Erfolg, als er es sich vorgestellt hatte. Er gab sich zufrieden, wie so oft bei Entwicklungen, denen er lieber aus dem Weg gegangen wäre. «Nicht nur die lediglich unbequemen
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