Wie Tau Auf Meiner Haut
stopfte es blindlings in
das Seitenfach der Computertasche. Viel konnte es nicht sein, vielleicht vierzig
oder fünfzig Dollar, denn sie trug normalerweise nur wenig Bargeld bei sich. Bei
den Scheckvordrucken zögerte sie, entschloss sich dann aber, sie vorerst noch zu
behalten. Vielleicht würde sie sie ja doch noch benutzen können, obwohl sich ein
Scheck natürlich zum Einlösungsort zurückverfolgen ließ. Ebenso verfuhr sie mit
der American-Express-Karte. Beides stopfte sie in die Plastiktüte und wusste,
dass sie keines der beiden Dinge noch lange gebrauchen konnte. Minneapolis
würde sie verlassen müssen. Wenn sie danach Schecks oder Kreditkarte
benutzte, käme ihr die Polizei direkt auf die Spur. In den Innenfächern ihrer
Handtasche steckten mehrere Fotos. Ohne sie anzusehen, wusste sie doch
genau, was auf ihnen abgebildet war. Mit zitternden Händen riss sie die
Plastikeinlage aus der Handtasche und stopfte sie ebenfalls in den Müllbeutel.
Was noch? Ihren Führerschein und ihre Sozialversicherungskarte. Wozu hätte sie
die jetzt noch gebrauchen können? Der Führerschein könnte allenfalls zu ihrer
Identifizierung dienen, was sie ja verhindern musste. Die Sozialversicherungs-
karte - sie verzog gequält die Lippen. Kaum wahrscheinlich, dass ihr zukünftiges
Leben ihr soziale Sicherheit bieten würde. Jeden Identitätsnachweis, den sie
zurückließ und der danach von einem anderen Menschen genutzt werden würde,
würde eine falsche Spur legen und die Suche der Polizei aufhalten. Sie ließ also
die Karten zurück. Einem plötzlichen Impuls folgend, nahm sie auch die Schecks
wieder aus der Plastiktüte. Sie riss einen Scheck heraus und steckte ihn zu dem
Bargeld. Danach steckte sie das Scheckheft wieder in die Handtasche zurück.
Den Lippenstift ließ sie, wo er war, aber den Kamm wollte sie behalten. Wieder
drohte ein unheimliches Lachen aus ihrer Kehle zu entweichen: Ihr Mann und ihr
Bruder waren gerade ermordet worden, und ihr sollte es etwas ausmachen, sich
nicht kämmen zu können? Dennoch wanderte der Kamm in die Plastiktüte.
Ihre zitternden Finger fuhren über mehrere Stifte und Kugelschreiber, von denen
sie blind zwei herausfischte. Die Stifte waren für ihre Arbeit ebenso wichtig wie
der Computer, denn manchmal, wenn sie an der Entzifferung einer einzelnen
Passage oder auch nur eines einzelnen Wortes verzweifelte, konnte es
ausreichen, die Stelle mit der Hand nachzuschreiben. Die Verbindung zwischen
Hand und Auge weckte oftmals eine Erinnerung, und sie konnte das eine oder
andere Wort begreifen, weil sie seine Ähnlichkeit zu anderen Sprachen und
Schriften entdeckte. Die Stifte musste sie also mitnehmen.
Ihr dickes Notizbuch. Sie wollte nicht daran denken. Es hatte die Kleinigkeiten
jenes täglichen Lebens festgehalten, das nun nicht mehr existierte:
Verabredungen, Stichpunkte und Erinnerungsstützen für dieses und jenes. Sie
wollte die gekritzelte Notiz für Fords nächsten Zahnarzttermin nicht sehen, auch
nicht das Herz, das er unter ihrem Geburtsdatum in den Kalender gemalt hatte.
Ihre Visitenkarten ließ sie ebenfalls zurück, da sie sie ohnehin kaum jemals
benutzte. Papiertaschentücher, Brillenspray, Kopfschmerztabletten und
Pfefferminzbonbons ebenfalls. Die Nagelfeile steckte sie in den Müllbeutel. Viel
war es nicht, aber immerhin das einzige, was einer Waffe ein wenig ähnelte. Bei
den Autoschlüsseln zögerte sie und überlegte, ob sie nicht doch zurückgehen und
ihr Auto oder Fords Kleinbus holen sollte. Nein, keine gute Idee. Wenn jemand
die Autoschlüssel fand, würde er vielleicht einen der Wagen stehlen und so die
Polizei weiter in die Irre führen.
Kaugummi, Gummibänder, das Vergrößerungsglas. Sie identifizierte all diese
Dinge lediglich durch Berührung. Nur die Lupe kramte sie hervor, denn die
brauchte sie für ihre Arbeit. Warum nur trug sie immer so viel Krimskrams mit
sich herum? Sie spürte, wie sie ungeduldig wurde. Es war das erste Gefühl, dem
es gelang, die Dumpfheit ihrer Trauer und Verzweiflung zu durchbrechen. Es ging
ja nicht nur um den ihrer Handtasche. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen,
kein unnützes Gepäck mit sich herumschleppen. Nichts durfte sich ihrem Ziel in
den Weg stellen. Von jetzt ab musste jeder Schritt ein notwendiger Schritt sein.
Kostbare Zeit und Energie durfte sie nicht verschwenden, nur weil die Angst sie
lahmte. Sie musste jetzt ohne zu zögern handeln, sonst würde Parrish
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