Wie Tau Auf Meiner Haut
Weiße zückte ein Messer. Die
Klinge blitzte im Regen unter dem Licht der Straßenlaternen geisterhaft auf.
»Mach keine Zicken, Alte«, zischte er mit heiserer und bedrohlicher Stimme.
»Her damit. « Ihm fehlten ein paar Schneidezähne, und ganz klar im Kopf schien
er auch nicht zu sein.
Wortlos steckte sie die Hand in die Tasche und holte die Scheine hervor.
Eigentlich hätte sie Angst haben sollen, aber der Mensch kann Angst nur bis zu
einem bestimmten Grad empfinden. Ist dieses Maß erst einmal überschritten,
wird gefühlsmäßig überhaupt nichts mehr wahrgenommen. Der schwarze Kerl
schnappte sich die Scheine, der andere kam mit dem Messer auf sie zu und hielt
es direkt vor ihre Augen. Grace zog ihren Kopf gerade noch rechtzeitig zurück,
sonst hätte die Klinge ihre Wange aufgeschlitzt. »Mann, ich habe es doch
gesehen, du Schlampe. Rück den Rest raus. «
Ihren tollen Plan konnte sie abschreiben. Vermutlich hatten sie sie bereits
beobachtet, als sie die Straße überquert hatte. Sie griff in die andere Tasche. Ihr
gelang es, die Finger so zwischen das Bündel zu schieben, dass sie nur die Hälfte
hervorholte. Der Schwarze grabschte sich auch diese Scheine. Dann tauchten die
beiden wieder im Dunkel der Seitenstraße ab. Nach ihrer Plastiktüte hatten sie
nicht einmal gefragt. Sie wollten lediglich Bargeld und nicht etwas, das ihnen
zusätzlichen Ärger bescheren würde. Den Computer besaß sie also immerhin
noch. Grace schloss die Augen und kämpfte dagegen an, unter der Last ihrer
Verzweiflung zusammenzubrechen. Sie hatte keinen Mann mehr, keinen Bruder,
aber den... verdammten... Computer, den hatte sie noch.
Ein heiseres Schluchzen ließ sie aufhorchen. Es dauerte eine Weile, ehe sie
merkte, dass es aus ihrer eigenen Kehle kam. Es dauerte noch weitere
Sekunden, ehe ihr klar wurde, dass sie wieder lief, irgendwie, irgendwohin.
Regentropfen rannen ihr über das Gesicht, jedenfalls nahm sie an, dass es der
Regen war. Sie konnte ihre Tränen nicht fühlen, aber sie fühlte auch nicht, dass
sie lief. Sie ging einfach immer weiter. Vielleicht weinte sie, so vergeblich das
auch sein mochte. Regen, Tränen, wo lag schon der Unterschied?
Immerhin besaß sie noch den Computer.
Computer, Kristian.
Sie musste ihn warnen. Wenn Parrish den geringsten Verdacht schöpfte, dass
Kristian von den Dateien Kenntnis hatte, ja sogar teilweise ihren kannte, würde
er nicht zögern, den Jungen umzubringen. Öffentliche Fernsprecher gab es
gottlob zahlreicher als Geldautomaten. Sie fischte ein paar Münzen aus dem
Beutel und hielt sie in ihrer klammen Hand. Dann bog sie in eine Seitenstraße
ein, eilte einen Häuserblock entlang, bog wieder in eine Straße ab und versuchte
so, möglichst viel Abstand zwischen sich und den beiden Gangstern zu schaffen.
Wie verlassen die Straßen doch waren! Sie hätte nicht geglaubt, dass die Straßen
einer Großstadt wie Minneapolis so einsam sein konnten. Ihre Fußtritte hallten
über das Pflaster, sie atmete laut und rasselnd. Der Regen tropfte von den
Dachrinnen und Markisen herunter, rings um sie herum bedrängten sie die
Wolkenkratzer. Hier und da zeugte ein erleuchtetes Fenster von einem armen
Büroangestellten, der die Nacht durcharbeitete. Dennoch war sie Lichtjahre von
jenen entfernt, die trocken und warm in ihren Kokons aus Glas und Stahl
hockten, während sie möglichst unauffällig durch den Regen lief. Schließlich kam
sie keuchend vor einer Telefonzelle an. Im eigentlichen Sinne war es keine
Telefonzelle mehr, es war einfach nur ein Apparat, der an beiden Seiten mit
Plastikscheiben versehen war. Immerhin gab es eine Ablage, auf der sie ihre
Tasche abstellen konnte. Sie hielt sie mit ihrem Körper fest, klemmte den Hörer
zwischen Kinn und Schulter und ließ einen Vierteldollar in den Einwurfschlitz
fallen. Sie hatte Kristians Nummer nicht mehr im Kopf, aber ihre Finger
erinnerten sich. Ohne ihren Kopf zu Rate zu ziehen, bewegten sie sich sicher
über das Tastenfeld. Gleich nach dem ersten Läuten hörte sie Kristians Stimme.
»Hallo? « Er klang angespannt und ungewöhnlich wach für diese Tages-,
vielmehr Nachtzeit.
»Kris. « Sie brachte den Namen nur noch krächzend hervor. Sie räusperte sich,
dann begann sie noch einmal von vorne. »Kris, ich bin es, Grace. «
»Grace, mein Gott. Überall ist die Polizei. Sie behaupten... « Er hielt plötzlich
inne und senkte die Stimme. Sein Flüstern klang beinahe wütend. »Geht es
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