Wie Tau Auf Meiner Haut
werden.
Es entbehrte nicht der Komik, dass sich Grace als problematischer als Ford oder
Bryant erwies. Wie lange kannte er sie schon? Seit fast zehn Jahren. Sie war
immer eine graue Maus gewesen. Sie benutzte kein Make-up und trug die Haare
einfach nach hinten gekämmt, wo sie von einem Gummi zusammengehalten
wurden. Ein bisschen füllig war sie auch. Dass sie so gar keinen Wert auf ihre
Aufmachung legte, beleidigte sein Feingefühl. Trotzdem war er mehrere Male
versucht gewesen, sie zu verführen. Wahrscheinlich hatten ihn die anderen
Frauen gelangweilt, die kleine Grace mit ihrer lachhaften Bürgermoral aber
forderte ihn in gewisser Weise heraus. Angeblich liebte sie ihren Ehemann und
war ihm treu. Aber sie hatte einen perfekten Porzellanteint und den sinnlichsten
Mund, den er je gesehen hatte. Parrish lächelte versonnen und spürte seine
wachsende Erregung bei der Vorstellung, was man mit diesen sinnlichen, so
roten und so weichen Lippen alles machen könnte. Der arme Ford hatte sicherlich
nicht die nötige Phantasie aufgebracht, um das entsprechend würdigen zu
können.
Auf der Straße wäre sie hilflos wie ein Kind. Während der letzten Nacht konnte
ihr alles mögliche zugestoßen sein. Vielleicht war sie ja bereits tot.
Diese Lösung würde alle Probleme zufrieden stellend aus der Welt schaffen.
Dennoch hoffte er, dass sie noch lebte. Die Dokumente waren bei ihr. Wenn
Conrad sie aufspürte, würde er auch die Dokumente finden. Wenn hingegen
eines jener kriminellen Elemente, die Nachts die Straßen unsicher machten, sie
umgebracht hatte, dann würde ihr Computer bei einem Hehler auftauchen, und
die Dokumente würden im Müll landen. Wenn die Kopien aber erst einmal im
Rachen der Unterwelt verschwunden waren, würden sie vermutlich niemals
wieder auftauchen. Sie wären für immer verschwunden und mit ihnen die lang
ersehnte, entscheidende Information. Die Stiftung wäre hinfällig, und Parrishs
Pläne würden in Luft aufgehen.
Das durfte nicht geschehen. Auf welche Art und Weise auch immer, er musste an
die Dokumente kommen.
Grace konnte nicht einschlafen. Sie war todmüde, doch jedes Mal, wenn sie die
Augen schloss, sah sie Ford vor sich, die plötzliche, schreckliche Leere seiner
Augen, als die Kugel sein Leben auslöschte und er tot auf dem Bett
zusammenbrach. Es regnete noch immer. Sie hockte in einem Geräteschuppen,
versteckt hinter einem Rasenmäher, dem ein Rad fehlte, einem schmierigen
Werkzeugkasten, ein paar rostigen Farbkanistern und einigen vergammelten
Pappkartons, die die Aufschrift »Weihnachtsdekoration« trugen. Der Verschlag
war nicht verriegelt gewesen, aber abgesehen von ein paar Schraubenziehern
und Schraubenschlüsseln war hier auch nichts zu holen.
Sie wusste nicht genau, wo sie war. Sie war einfach Richtung Norden gelaufen,
bis sie vor Müdigkeit nicht mehr weiterkonnte. Dann hatte sie in dem
Geräteschuppen hinter einem Ranchhaus im Stil der fünfziger Jahre Zuflucht
gesucht. Die Gegend wirkte leicht heruntergekommen, das Mittelklasseambiente
blätterte bereits ab. Die Garage war leer. Möglicherweise hatte sie Glück, und es
war keiner zu Hause. Sollte doch jemand zu Hause sein, so hielten sich die Leute
wegen des Regens im Haus auf. Jedenfalls hielt sie niemand auf, als sie den Hof
überquerte und die dünne Blechtür öffnete.
Über das Gerümpel war sie bis in die hinterste Ecke geklettert und hatte sich dort
auf dem schmutzigen Zementboden niedergelassen. Wie gelähmt kauerte sie da.
Die Zeit verstrich, aber sie hatte keinerlei Zeitgefühl mehr. Nach einer Weile
näherte sich ein Auto, mehrere Autotüren wurden zugeschlagen. Ein paar
quengelige Kinder wurden von einer Frauenstimme ermahnt, ruhig zu sein. Sie
hörte erst eine Fliegentür quietschen, dann wurde noch eine Tür zugeschlagen.
Die Geräusche verstummten, denn sie waren jetzt in ihr schützendes Zuhause
getreten, wo sich ihr ganz normales Leben abspielte.
Grace legte den Kopf auf die Knie. Sie war unendlich müde, sehr hungrig und
vollkommen ratlos, was sie als nächstes tun sollte. Man würde Ford und Bryant
beerdigen, und sie konnte ihnen kein letztes Lebewohl sagen, durfte sie nicht ein
einziges Mal berühren und ihr Grab nicht mit Blumen bepflanzen.
Sie schluckte und wiegte sich gepeinigt wie ein Kind vor und zurück. Sie fühlte,
wie sie in sich zusammensackte, wie sie ihre Selbstherrschung verlor und schlang
die Arme um sich, als ob sie so alles
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