Wie Tau Auf Meiner Haut
Jahren
gelebt hatte, sie gänzlich mit Beschlag belegte. Niall sei »von großem Wuchs«
gewesen, »drei Ellen und fünf Zoll«. Da das Dokument in französischer Sprache
abgefasst war, entsprach die Maßangabe wohl eher der Brabanter Elle von 69
Zentimetern als der englischen von etwas über 91 Zentimetern. Die schottische
Elle von ungefähr einem Meter fünfzehn konnte nicht gemeint sein, denn dann
hätte der gute Mann drei Meter fünfzig gemessen. Die Brabanter Elle war
wahrscheinlicher. Dann war er zwar immer noch ein Hüne von über zwei Metern
gewesen, aber doch kein Monstrum. Im Mittelalter waren die Menschen sehr
unterschiedlich groß gewesen, je nachdem, wie gut sie während ihrer Kindheit
ernährt werden konnten. Manche Ritter waren so lächerlich klein gewesen, dass
ihre Rüstungen aussahen, als wären sie für Kinder angefertigt worden, während
andere selbst nach modernem Maßstab ausgesprochen stattlich gewesen waren.
Den Dokumenten zufolge war Niall ein unübertroffener Schwertkämpfer
gewesen, außerdem in allen Künsten des Waffenumgangs geübt. All die
Schlachten wurden aufgezählt, in denen er gekämpft hatte, all die Sarazenen
genannt, die er getötet hatte, und all die Ritter erwähnt, deren Leben er gerettet
hatte. Grace gewann den Eindruck eines mythischen Helden, eines Herkules, und
nicht den eines mittelalterlichen Tempelritters, der tatsächlich einmal gelebt
hatte. Die Ritter des Tempelordens waren zugegebenermaßen ausgezeichnete
Krieger gewesen, die besten ihrer Zeit, eine Art mittelalterliches
Sondereinsatzkommando. Doch wenn alle Tempelritter so herausragende Krieger
gewesen waren, weshalb dann das überschwängliche Lob für diesen Niall von
Schottland? Das Dokument war von einem Mitglied des Tempelordens verfasst
worden. Es war denkbar, dass Außenstehende von dem großen Ritter enorm
beeindruckt waren, aber innerhalb des Ordens hätte man seine Leistungen doch
eigentlich als selbstverständlich ansehen müssen. Die Verherrlichung nur eines
ihrer Mitglieder schien wenig wahrscheinlich. Plötzlich brach der Text ab. Es
folgte eine Art Brief, den ein gewisser Valcour unterschrieben hatte. Er sorgte
sich um die Sicherheit eines »Schatzes«, der wertvoller als Gold sei. Er betonte,
der Schutz dieses Schatzes sei von allergrößter Wichtigkeit.
Ein Schatz. Grace dehnte sich, um ihre Schultern zu lockern. Sie wusste nicht,
wie lange sie schon am Computer arbeitete, ihre Füße jedoch waren
eingeschlafen, und die Muskulatur an Schultern und Nacken schmerzte. Als sie
bei Kristian gewesen war, war dort ebenfalls von einem Schatz die Rede
gewesen. Da sie jedoch nach Niall von Schottland gesucht hatte, hatte sie diese
Passage nur grob überflogen. Sie erinnerte sich, dass der Tempelorden große
Reichtümer besessen hatte, dass sogar Könige und Päpste dort Anleihen
gemacht hatten. Der Schatz des Tempelordens hatte natürlich aus Gold
bestanden, wie also konnte der in dem Dokument erwähnte Schatz »wertvoller«
als Gold sein?
Bisher hatte sie durch ihre angespannte Konzentration die Müdigkeit in Schach
halten können, nun aber begann sie sich schwer auf ihre Glieder zu legen. Ihre
Hände fühlten sich mit einem Mal schwer wie Blei an. Sie stellte das Programm
ab, ließ die Diskette herausspringen und steckte sie wieder in die Schutzhülle
zurück. Sie schaltete den Computer ab und lehnte sich zurück. Aufstöhnend
streckte sie ihre beinahe tauben Glieder. Die plötzliche Bewegung jagte einen
heftigen Schmerz durch ihren Körper.
Mühsam rückte sie zur Seite und ließ sich gegen die Kartons mit dem
Christbaumschmuck sinken. Sie merkte noch, wie sie einschlief und ihr
Bewusstsein wie von einem schweren, schwarzen Tuch verhängt wurde. Sie war
froh darüber, denn sie brauchte dringend Schlaf. Ihre Augenlider waren zu
schwer, um sie auch nur noch einen Augenblick länger offen halten zu können.
Ihr letzter Gedanke war Niall, einen Augenblick hatte sie das Bild eines riesigen
Ritters in voller Rüstung vor Augen, der ein fast zwei Meter langes Schwert
schwang, während rechts und links die Feinde vor ihm in die Knie sanken. Aber
dann schwemmte sie die undurchsichtige Flut des Schlafes fort.
1322
Sechshundertundvierundsiebzig Jahre früher erwachte Niall in wachsam
angespanntem Zustand und hob seinen Kopf vom Kissen. Eine einsame Fackel
brannte in der Halterung, und das Kaminfeuer war fast heruntergebrannt. Nach
dem kräftezehrenden
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