Wie Tau Auf Meiner Haut
Studien war. Sie ging Text für Text über mittelalterliche
Geschichte sowohl bei den Büchern als auch bei den Computerdateien durch und
suchte irgendeine Erwähnung von Niall von Schottland. Bisher hatte sie viel über
das Mittelalter gelernt, aber keinerlei Spuren des kriegerischen Ritters finden
können. Sie ließ sich jedoch nicht entmutigen, denn sie hatte an der Oberfläche
des verfügbaren Materials nicht mal gekratzt. Sie ging sofort in den richtigen
Seitengang und machte dort weiter, wo sie gestern Abend aufgehört hatte. Sie
suchte sich einige Bücher heraus und setzte sich an einen abgelegenen Tisch.
Dann setzte sie ihre Brille auf und begann, Seite für Seite daraufhin
durchzusehen, ob irgend jemand namens Niall erwähnt war, der eine Verbindung
zu den Tempelbrüdern gehabt hatte.
Beinahe hätte sie es verfehlt. Sie las bereits länger als zwei Stunden, und ihr
Gehirn war auf Durchgang eingestellt. Zunächst erkannte sie die Referenz nicht,
sondern las darüber hinweg. Dann aber erregte die Ähnlichkeit des Namens ihre
Aufmerksamkeit, und sie las den Absatz noch einmal:
»Als Hüter des Schatzes war ein Ritter, stolz und ungestüm, auserwählt, von
königlichem Blute, Niel Robertsoune. «
Ihr Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen. Es musste sich um Niall
handeln! Die Namen waren zu ähnlich, und der Hinweis auf den Schatzhüter war
überdeutlich. Hatte sie auch früher schon etwas über Niel gelesen und nur nicht
weiter beachtet, weil sie den Namen nicht damit verbunden hatte? Die
Rechtschreibung damals war eher zufällig gewesen, und sie hätte jedem mit »N«
beginnenden Namen besondere Aufmerksamkeit schenken sollen. Endlich hatte
sie seinen Nachnamen gefunden! Robertsoune oder Robertson. Schnell suchte sie
nach irgendwelchen Abwandlungen von Niall wie zum Beispiel Niel, Neal, Neil und
auch nach Namen, die dem Namen Robertson ähnelten.
Sie fand nichts. Es gab einige Roberts und Robertsons, sogar ein paar Neals,
aber keiner passte in die zeitliche Spanne, die sie suchte. Mit nervösen Händen
klappte sie das Buch zu. Sie musste sich sehr beherrschen, um nicht vor
Frustration mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Die Intensität ihrer
Enttäuschung erschreckte sie. Sie war schon manches Mal mit ihren Studien
nicht vorangekommen und hatte es gelassen hingenommen. Diese maßlose,
unglaublich heftige Verzweiflung jedoch brannte sich durch ihre schützende
Taubheit hindurch. Sie wollte aber keine anderen Gefühle als die der Wut und
des unstillbaren Durstes nach Rache haben, da sie bei anderen Gefühlen ihren
Zusammenbruch befürchtete. Ein paar Mal hatte der Schmerz es bereits
geschafft, sich durch ihre Taubheit zu bohren und hatte sie beinahe umgebracht.
Dieses unverhältnismäßig starke Interesse an Niall von Schottland hatte sie
bereits seit dem ersten Mal verspürt, als sie die Kopien der alten Pergamente
durchgelesen hatte. Die grauenvollen Erlebnisse der letzten Zeit hatten ihr
Interesse keinen Deut gemindert. Im Gegenteil, ihre Faszination wuchs mit
jedem Tag und mit jeder Seite, die sie las.
Sie hatte begonnen, Niall von Schottland als einen Mythos zu betrachten. Warum
aber eine solche Erfindung in der Geschichte der Tempelritter auftauchen sollte,
konnte sie sich nicht erklären. Diese eine Erwähnung von »Niel Robertsoune« als
auserkorener Schatzhüter war die einzige Bestätigung, die sie hatte finden
können. Dennoch genügte sie ihr. Er hatte existiert, er war ein wirklicher Mann
gewesen, der lebte und atmete und aß wie alle anderen Männer auch. Vielleicht
hatte er ja nach der Zerstörung des Ordens der Verfolgung entfliehen können
und ein ganz normales Leben geführt. Vielleicht war er mit einer Frau glücklich
geworden, hatte Kinder gehabt und war erst in hohem Alter gestorben. Der
wirkliche Niall von Schottland hatte vermutlich keinerlei Ähnlichkeit mit dem
schwarzhaarigen Krieger, der sie in ihren Träumen verfolgte. Sie klammerte sich
jedoch an diese Vorstellung, denn ihre Träume waren der Beweis dafür, dass sie
innerlich noch nicht vollkommen abgestorben war. Ein paar wenige Spuren der
alten Grace St. John lebten tief in ihr verborgen weiter.
Niall von Schottland hatte es also tatsächlich gegeben. Mit frischem Elan schob
sie das dicke Referenzwerk beiseite. Dort konnte sie ihn nicht finden. Als einer
der berüchtigtsten Ritter war er für sein Überleben darauf angewiesen, nicht als
solcher bekannt zu
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