Wie Tau Auf Meiner Haut
werden. Wenn sie überhaupt etwas über ihn finden konnte,
dann in den noch zu entziffernden Dokumenten, den ausgesuchten fotokopierten
Kopien...
Kopien.
Ihre Gedanken kamen erst abrupt zum Stillstand, dann rasten sie wild
durcheinander. Warum wollte Parrish eine Kopie der Dokumente, wenn er doch
das Original haben konnte? Warum wollte er diese Kopien so unbedingt haben,
dass er dafür Ford und Bryant ermorden ließ und auch sie hatte umbringen
wollen?
Rein logisch gab es dafür nur zwei Erklärungen. Beide bedurften eines Ausmaßes
an zufälliger Übereinkunft, die ihrer Glaubwürdigkeit abträglich war. Die eine
Möglichkeit war die, dass er nicht wusste, wo sich die Originale jetzt befanden.
Aber geben musste es sie, denn sie waren archiviert und fotografiert worden,
und die Kopien hatte man ihr zugeschickt. Konnte es sein, dass irgend jemand
aus irgendeinem unerfindlichen Grund die Originale gestohlen hatte -
möglicherweise aus demselben Grund, weswegen sie auch Parrish haben wollte?
Wenn ja, was war dann mit den Negativen passiert? Von ihnen hätte man
schließlich weitere Kopien herstellen können. Die andere Erklärung war die, dass
die Originale irgendwie zerstört worden waren. Solche Unglücksfälle kamen vor.
Aber wiederum stellte sich die Frage nach den Negativen. Diese Überlegungen
führten sie zu zwei weiteren Möglichkeiten. Die eine war die, dass die Negative
ebenfalls zerstört oder gestohlen worden waren. Und die andere, dass Parrish
nicht nur die Kopie haben wollte, sondern jedes Wissen darüber tilgen wollte.
Das bedeutete, dass jeder umgebracht werden musste, der davon wusste.
Ihre Überlegungen kamen so wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück: Parrish
wollte sie umbringen. Der Grund dafür lag in den geheimnisvollen Seiten
verborgen.
Sie hatte ihre Zeit damit verschwendet, Referenzwerke zu lesen. Von nun an
musste sie sich auf die Übersetzung der eng geschriebenen Dokumente
konzentrieren. Das aber konnte sie besser in der Abgeschiedenheit ihres
Zimmers bei Harmony tun als in einer öffentlichen Bibliothek. Eilig stellte sie die
Bücher ins Regal zurück und sammelte ihre Sachen zusammen.
Gewohnheitsgemäß blickte sie sich nach irgend etwas Ungewöhnlichem um und
ob jemand sie beobachtete, aber die an den Tischen sitzenden Leute schienen
vollkommen auf ihre Studien konzentriert. Die Newberry-Bibliothek zog eher
ernsthafte Forscher als Oberschüler an, die für ein Referat recherchierten. Sie
legte den Riemen ihres Computers sowohl um den Hals als auch über die
Schulter und hielt den Griff fest in der linken Hand. Beim Gehen umklammerte
ihre rechte Hand immer den Messergriff an ihrem Gürtel. Das Busgeld steckte in
ihrer rechten Jeanstasche, so dass sie den Computer nicht loslassen musste, um
das Geld herauszuholen.
Als sie die Bibliothek verließ, war es schon fast dunkel. Das war an sich nicht
ungewöhnlich, denn sie war des Öfteren noch viel länger dort geblieben. Sie
beeilte sich, an die Bushaltestelle zu kommen. Eine kühle Brise blies ihr ins
Gesicht, als sie sich hinter den beiden Gestalten anstellte, die an der Haltestelle
warteten: eine plumpe, junge schwarze Frau mit einem runden, freundlichen
Gesicht, die einen kraftvollen Zweijährigen mit riesigen Augen an der Hand hielt.
Der kleine Junge stieg immer wieder auf eine Bank und wieder herunter und ließ
sich durch den tadelnden Zugriff seiner Mutter nicht im mindesten stören. Er
krabbelte über und unter und zwischen ihren Beinen, und sie verlagerte lediglich
ihren Griff so, dass sie ihn irgendwo zu fassen bekam. Grace dachte, dass
Muttersein einem Ringkampf mit einem Oktopus ähnelte, aber die junge Frau
verhielt sich ihrem temperamentvollen Jungen gegenüber ausgesprochen
gelassen.
Ohne jede Vorwarnung und ohne Schritte gehört zu haben, rempelte jemand
Grace brutal an, so dass sie ihr Gleichgewicht verlor. Ihr Kopf fuhr nach rechts,
während jemand mit aller Kraft an ihrer Computertasche zerrte. Die junge Frau
schrie erschrocken auf, griff nach ihrem Kind und rannte weg. Der ungeduldige
Angreifer fluchte wild. Sein Atem roch übel. Verzweifelt klammerte sich Grace an
den Griff und kam irgendwie wieder auf die Beine, wobei das Gezerre des
Mannes sie wieder ins Gleichgewicht brachte.
Fluchend kam er mit einem Messer auf sie zu, um damit den Schulterriemen
abzutrennen. Den Riemen schützend, schnellte sie herum. Ein kaltes Feuer
brannte auf ihrem Unterarm. Sie sah
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