Wie Tau Auf Meiner Haut
hatte noch
nicht einmal daran gedacht, das Messer auch zu benutzen. Schau dich doch mal
an, dachte sie wütend. Du läufst in aller Öffentlichkeit mit einem blutenden Arm
eine belebte Straße entlang! Sicherlich würde sie gleich mit einem Polizisten
zusammenstoßen, und das war nur die unmittelbarste aller Gefahren. Einige der
Leute wurden auf sie aufmerksam. Parrish brauchte nur eine kleine Armee die
Straßen absuchen zu lassen, um sie zu finden. Die Suche würde sich mittlerweile
auf ihr wahrscheinlichstes Versteck, Chicago nämlich, konzentriert haben.
Erschwerend kam hinzu, dass sie wegen ihrer knappen Geldvorräte arbeiten
gehen musste. Sie musste vom Schlimmsten ausgehen. Also musste sie
augenblicklich von der Straße weg und ihr Aussehen verändern.
Direkt vor ihr betraten ein Mann und eine Frau ein gut besuchtes Restaurant.
Grace verlangsamte kaum ihren Gang, als sie hinter ihnen kurz vor dem
Schließen der Tür hineinschlüpfte. Sie stand so dicht hinter ihnen, dass der
Körper des Mannes ihren blutenden Arm vor den Blicken der Platzanweiserin
schützte. »Raucher oder Nichtraucher? « fragte die Frau und zog drei
Speisekarten hervor.
»Nichtraucher«, erwiderte der Mann. Die Platzanweiserin machte einen Haken
auf ihrer Tischanordnung, dann führte sie sie durch den Wirrwarr der belegten
Tische und Nischen. Grace entdeckte den Wegweiser zu den Toiletten, die in
einem engen Gang lagen.
Die Damentoilette war klein, dunkel und leer. Die Ausstattung war nicht dazu
geeignet, Menschen zum Verweilen einzuladen. Das ohnehin nur schwache Licht
wurde durch die dunklen Kacheln des Bodens und der Wände noch weiter
gedämpft. Eine rosalila Neonröhre beleuchtete den Spiegel und verlieh jedem
einen äußerst unnatürlichen Farbton, der hier sein Make-up erneuern oder aber
sich im Spiegel bewundern wollte. Grace tat weder das eine noch das andere. Sie
zog gleich mehrere Papierhandtücher aus dem Vorratsbehälter und wusch sich
damit die Hände und ihren Arm. Neues Blut sickerte ebenso schnell aus der
Wunde wieder hervor, wie sie es abzuwaschen versuchte. »Verflucht, verflucht,
verflucht«, flüsterte sie. Im Spiegel bemerkte sie die Schieflage ihrer blonden
Perücke. Hastig zog sie mit einer Hand die Nadeln heraus, die die Perücke immer
noch halbwegs an ihrem Platz hielten, und riss sie sich vom Kopf. Ihr langes,
zerdrücktes Haar fiel ihren Rücken hinunter.
Einen kurzen Moment lang musste sie beide Hände benutzen. Sie drückte eines
der braunen Papierhandtücher so fest auf die blutende Wunde, dass es auf ihrem
Arm kleben blieb. Der rote Fleck vergrößerte sich augenblicklich, aber immerhin
tropfte er nicht. Sie stopfte die Perücke in ihre Computertasche, band ihre Haare
auf ihrem Kopf zu einem Knoten und steckte ihn fest. Sie zerrte ihre
Baseballmütze hervor, stülpte sie sich über und zog sie sich bis tief über die
Augen herunter.
Ihren Arm zu bewegen tat höllisch weh. Der provisorische Verband war bereits
völlig blutig und begann sich zu lösen. Sie zog ihn herunter und warf ihn in den
Abfall, dann drückte sie wieder ein Papierhandtuch auf die Wunde. Vor Schmerz
die Zähne zusammenbeißend, starrte sie ihr kränkliches, blasses Spiegelbild an.
Eigentlich war die Wunde nicht weiter schlimm, sie würde daran nicht verbluten,
außerdem konnte sie ihren Arm immer noch benutzen. Niall hätte wegen einer
solch lächerlich geringen Verletzung nicht einmal innegehalten, er hätte
weitergekämpft.
Genau das hatte auch sie getan, bemerkte Grace überrascht.
Zugegebenermaßen war ihr Gegenangriff nicht besonders gut durchdacht
gewesen, die Schnittwunde aber hatte sie überhaupt erst hinterher zur Kenntnis
genommen. Wenn Nialls irrsinnige Wut über ihre Verletzung abgeebbt wäre,
wäre er wahnsinnig stolz auf sie gewesen...
»Ich muss wohl verrückt geworden sein«, sagte Grace laut und blinzelte. Sie
musste mehr Blut verloren haben, als ihr bewusst war, dass sie an Niall wie an
jemanden dachte, den sie tatsächlich kannte, und nicht als einen
bemerkenswerten Ritter des Mittelalters, der bereits vor mehreren Jahrhunderten
gestorben war. Sie sollte lieber einmal darüber nachdenken, wie und womit sie
ihren Arm bandagieren konnte.
Sie hatte auch gleich einen Einfall. Mit der rechten Hand drückte sie die
Papierhandtücher fest und benutzte die linke, um sich ihren Schuh aufzubinden.
Sie zog erst ihren Schuh, dann ihren Socken aus, ehe sie mit ihrem
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