Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
abends Viehzucht […] treiben, nach dem Essen […] kritisieren […] ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden«.[ 40 ] Kaum vernünftiger war Leo Trotzkis Vorhersage, dass unter dem Kommunismus der durchschnittliche Menschentyp »sich auf das Niveau eines Aristoteles, Goethe, Marx erheben [wird]. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.«[ 41 ]
Marx präsentierte zwar zwingende Gründe dafür, warum der Kapitalismus ein Ende finden
sollte,
nicht aber dafür, warum er das tun würde. Marx rechnete nicht mit der anhaltenden Dynamik des kapitalistischen Systems, mit seiner Fähigkeit, immer neue Hindernisse zu überwinden. Vor allem aber war Marx blind gegenüber den Versuchungen der dialektischen Argumentation. Wir würden ihm unrecht tun, würden wir behaupten, dass er den Stalinismus begrüßt hätte, andererseits jedoch bot seine Methode von ihren Prinzipien her keine Basis für einen Widerstand gegen den Stalinismus oder, was das betrifft, den Maoismus. Von Mao heißt es, er habe die vielen Millionen Menschenleben, die sein »Großer Sprung nach vorn« forderte, mit dem gefühllosen Kommentar abgetan, dass der Tod »in der Tat ein Grund zur Freude [ist]«, denn: »Wir glauben an die Dialektik, deshalb können wir nicht gegen den Tod sein.«[ 42 ]
D IE ENTTÄUSCHTE H OFFNUNG: VON M ARX ZU M ARCUSE
In den 100 Jahren, die auf die Veröffentlichung von
Das Kapital
1867 folgten, scheiterte der revolutionäre Sozialismus in Ländern, die angeblich reif für ihn waren, und war siegreich in Ländern, die Marx nicht dafür bereit gehalten hatte. Ende der 1950er-Jahre war es der Kapitalismus, nicht der Sozialismus, der zumindest im Westen die wirtschaftliche Aufgabe gelöst zu haben schien; natürlich nicht der zähnefletschende und klauenschwingende Kapitalismus, den Marx analysiert hatte, sondernein Kapitalismus, der durch staatliche Verwaltung, Wohlfahrtssysteme und Gewerkschaften so modifiziert war, dass nicht wenige zweifelten, noch dasselbe Biest vor sich zu haben. Wenn das der Kapitalismus war, dann brauchte man keinen Sozialismus mehr.[ 43 ] 1956 verschob John Kenneth Galbraith die Aufmerksamkeit auf die Krankheiten des Reichtums. Den Bewohnern der westlichen Länder, argumentierte Galbraith in seinem 1958 erschienenen Bestseller
Gesellschaft im Überfluss
, ginge es nun so gut, dass das wirtschaftliche Problem nicht länger vorrangig sei. Kurz gesagt, Keynes’ Zeitalter des Überflusses war gekommen – und das viel früher als erwartet! Nun sei es an der Zeit, das Wachstum abebben zu lassen und sich verstärkt dem guten Leben zu widmen. Galbraiths Vorstellung davon, wie das zu bewerkstelligen sei, war recht nüchtern: Von dem neuen Wohlstand sollte ein größerer Anteil in die öffentlichen Dienste fließen. Doch seine Botschaft wurde von den jungen Radikalen der 1960er-Jahre absorbiert und auf ein weitaus aufregenderes Projekt angewendet: das der sexuellen Befreiung. Ihr Gott war nicht Marx, sondern Freud.
Die 1960er-Jahre hatten etwas besonders Berauschendes an sich, etwas, das diejenigen, die es im richtigen Alter
bewusst
miterlebten, nie mehr ganz losließ. Obwohl es schon früher utopische Schriften und utopische Gemeinschaften gegeben hatte, war dies das erste Mal, dass Utopia für einen kurzen Moment aus dem Schatten ins Licht trat, sowohl als Theorie als auch in der Praxis. Der utopische Traum von einem Leben frei von Mühsal und Beschwernis, Streit und Krieg stand kurz davor, die Köpfe und Herzen einer ganzen Generation junger Menschen zu erobern. Schon immer waren freie Liebe und Überfluss ein Merkmal folkloristischer Utopia-Entwürfe, und dieses Utopia war darin keine Ausnahme. Die Hippies mit den Blumen im Haar machten eine gute Figur als Lilien auf dem Felde. Sie lehnten das von der Knappheit diktierte Arbeitsethos ab, schließlich bestand ja keine Notwendigkeit mehr, sich seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Sex, Drogen, Musik, Mystizismus, Antikriegsproteste und Revolutionsromantik vermischten sich zu einem orgiastischen Moment der Befreiung. Marihuana warein »Wahrheitsserum«, und »an jeder Erektion war die Rote Fahne aufgezogen«.[ 44 ]
Die materielle Basis für das sexuelle Utopia war ein »ununterbrochener Fluss komfortabel hoher Einkommen«.[ 45 ] Das befreite die in den 1940er-Jahren geborene Babyboom-Generation von der Angst vor Arbeitslosigkeit, die ihre Eltern noch geplagt hatte. In den 25 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg waren die
Weitere Kostenlose Bücher