Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
denn auch mit den Worten: »Aber das ist nichts als eine Chance.«
Wir wissen natürlich, dass kein sexuelles Utopia verwirklicht wurde. Was auch alles andere als überraschend ist. Utopien sind vervollkommnte Gesellschaften, wie sie in dieser Welt niemals entstehen können. Durchaus interessant aber ist die Frage, warum nicht mehr Fortschritte bei der Verwirklichung der Träume der sexuellen Utopisten erreicht worden sind.
Der offensichtlichste Grund war das Unvermögen der westlichen Volkswirtschaften, das Versprechen vom allgemeinen Überfluss zu erfüllen. In der Praxis folgte auf die Protestbewegungen der 1960er-Jahre sehr schnell der Zusammenbruch des keynesianischen Staats, auf dem die Erwartungen von einem unmittelbar bevorstehenden Überfluss geruht hatten. Und mit ihm das Ende des Utopismus. Im Westen (nicht aber in Lateinamerika) wurde Marcuse noch vor seinem Tod zu einem Museumsstück. Die Welt der ungesicherten Arbeit kehrte zurück, der Trend zu einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung wurde umgekehrt, und die kreative Zerstörung feierte ihre Wiederauferstehung. Unter Reagan und Thatcher gewann der Kapitalismus viel von seinem alten seeräuberischen Piratengeist zurück, und der Traum der triebhaften Befreiung vom Sprungbrett eines verwalteten Überflusses zerstob.
Doch selbst wenn sich das Wachstum im bisherigen Tempo fortgesetzt hätte, der Utopismus der 1960er-Jahre war zum Scheitern verurteilt.Marcuse selbst erkannte die ausgeprägte Fähigkeit des Kapitalismus, den sozialen Wandel zu »unterbinden« beziehungsweise »einzudämmen«. Die Sex-and-Drugs-and-Rock-’n’-Roll-Kultur der Jugend erwies sich als absolut kompatibel mit den existierenden Herrschaftsbeziehungen, wenn auch in einer etwas abgewandelten Form. Wie sich nämlich zeigen sollte, verstand sich der Kapitalismus sehr gut auf die Kommerzialisierung der sexuellen Revolution; er absorbierte sie und verwandelte sie in vermarktbare Produkte, während Gewalt, ob nun krimineller oder revolutionärer Natur, ins Repertoire der Unterhaltungsindustrie aufgenommen wurde. Das kapitalistische System hat eine enorme Fähigkeit demonstriert, Prügel einzustecken, ohne k.o. zu gehen. Es ist wie ein gigantischer Punchingball, der, egal, wie hart man auf ihn eindrischt, immer wieder zurückkommt, nicht notwendigerweise in genau derselben Form, aber unverkennbar von derselben Substanz.
Nichtsdestotrotz, indem Marcuse das Wort »containment« – Eindämmung – verwendet, wird ein vorschnelles Urteil in der Sache gefällt. »Containment« bedeutet in diesem Zusammenhang auch Pluralismus. Liberaldemokratische Gesellschaften bieten vielen Akteuren ein Zuhause, die das Gewinnstreben ablehnen. Für Marcuse (wie für die marxistischen Intransigenten) waren sozialdemokratische Regierungen und Gewerkschaften Teile desselben repressiven Systems, das
in toto
zu negieren war. Ebenso unterließ Marcuse es, den qualitativen Unterschieden zwischen Faschismus und Demokratie und der Größenordnung ihrer jeweiligen Grausamkeiten ein auch nur annähernd an gemessenes Gewicht beizumessen. Seine Besessenheit mit dem »Todestrieb« war, natürlich, stark beeinflusst von dem von den Nazionalsozialisten tatsächlich angerichteten Holocaust und dem drohenden atomaren Holocaust. Mit die bissigsten Passagen über das »glückliche Bewusstsein« sind diejenigen, in denen er sich über Atomschutzbunker auslässt, die mit Teppich und den üblichen Paraphernalien der Konsumgesellschaft ausgestattet sind.
Marcuses fundamentaler Fehler war der aller Utopisten: Er verschloss seine Augen vor dem offenkundigen Faktum der »Erbsünde«.Das erlaubte es ihm, die ganzen mit dem Sexualtrieb einhergehenden Übel – Eifersucht, Pornografie, Sadismus und so weiter – als Produkte seiner Unterdrückung durch den Kapitalismus zu interpretieren. Hebe die Unterdrückung auf, und die Sexualität kehrt automatisch in den Zustand der kindlichen Unschuld zurück. Das war eine oberflächliche Philosophie, die Freud selbst nie so vertrat. Der Sexualtrieb ist in seinem Ursprung mit Macht und Verwundbarkeit verbunden, was bedeutet, dass seine Regulierung kein vorübergehendes Phänomen ist, sondern eine Grundvoraussetzung des zivilisierten Lebens.
Marcuse ignorierte nicht nur das wahre Ausmaß der Lust, sondern auch der Gier, die den Menschen innewohnt. Wie andere Marxisten war er überzeugt, dass die Multiplikation der Bedürfnisse uns von einem bösen produktiven Apparat aufgezwungen wird.
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