Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
werden. Darin enthüllte Marx sich selbst als Erbe der fantastischeren unter den judäo-christlichen Apokalyptikern mit ihren Visionen von einem reinigenden Blutbad – und verlieh seinem faustischen Handel einen Schrecken, der bei Goethe und in den friedfertigeren englischen Varianten fehlte.[ 26 ]
Marx’ Kapitalismuskritik war zutiefst moralisch. Für ihn war der Kapitalismuszu hassenswert und zu ungerecht, um auf Dauer überleben zu dürfen. Er entfremdete die Arbeiter zwangsweise von ihren Produktionsmitteln und somit ihrer spezifisch menschlichen Substanz, was sie anfällig für die Ausbeutung machte. Der Kapitalismus opferte das »produktive Leben des Menschen« zugunsten des »Geldsystems«, den Gebrauchswert zugunsten des Tauschwerts. In diesem Punkt stand Marx in der Tradition von Aristoteles und dessen mittelalterlichen Gefolgsleuten; er war, um mit Richard Henry Tawney zu sprechen, der »letzte Scholastiker«.
So grausam der Kapitalismus aber auch sein mochte, er war zugleich doch das Instrument zur Befreiung der Menschen aus der Armut. Er war, mit anderen Worten, eine weitere
felix culpa,
eine glückliche Sünde, gehörte mit zum Wirken der Vorsehung. In einem 1853 erschienenen Zeitungsartikel pries Marx die britische Herrschaft in Indien dafür, eine stagnierende Gesellschaft in Bewegung versetzt zu haben: »Welche Verbrechen es auch begangen haben mag, so war England doch das unbewusste Werkzeug der Geschichte […]«[ 27 ] Ihre moralische Ambivalenz gegenüber dem Kapitalismus hat den Marxisten seit jeher zu schaffen gemacht: Einerseits ist er ein Übel, das es zu stürzen gilt, andererseits das unerlässliche Instrument des Fortschritts.
Hegels Dialektik war das perfekte intellektuelle Instrument zur Auflösung der Marx’schen Ambivalenz gegenüber dem Kapitalismus. In Hegels Philosophie – die genau genommen eine Säkularisation der Philosophie des Joachim von Floris ist – handelt die Geschichte der Menschheit vom Wachstum der Vernunft. Jede partielle, unvollständige Stufe des menschlichen Bewusstseins beziehungsweise der Erkenntnisfähigkeit des Menschen erzeugt ihre Negationen respektive Verneinung, die in der Folge dann in einem umfassenderen, höheren Bewusstseinsniveau absorbiert wird, und so weiter, bis die reine Vernunft erreicht ist, in der die Gesamtheit des Seins durch den Geist determiniert wird. Wir entdecken hier Hegels Kategorie der historischen Sendung, »die einzelne Völker oder Klassen durch ihre Verbrechen und Leidenschaften unbewusst erfüllen«.[ 28 ]
Marx griff diese Vorstellung auf, aber beeinflusst von seinen frühen politischen Erfahrungen, die ihn an Hegels Behauptung zweifeln ließen, der preußische Staat sei die Verkörperung der Vernunft, nahm er Hegels Konflikt der Ideen und machte daraus einen Konflikt der Klassen. Geschichte ist die Geschichte des Klassenkampfs: Das Sein bestimmt das Bewusstsein, nicht andersherum. Hegels sukzessive, antagonistischen Stufen der Vernunft waren nichts weiter als gegensätzliche Systeme der Eigentumsbeziehungen. Und die Religion, der große Gegenspieler der Denker der Aufklärung, war für Marx der spirituelle Schleier, den die Besitzenden benutzten, um den Besitzlosen den Blick auf ihre wahre Situation zu verwehren.
Allerdings arbeitete Marx nur eine Phase seines »dialektischen Materialismus« aus, den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus.[ 29 ] Dabei entsteht aus den zunehmend wohlhabenden, politisch aber untergeordneten »Bürgern« der Städte die Klasse der Bourgeoisie, die das auf Landbesitz basierende Gutsherrensystem umstürzt. Die Bourgeoisie ist die erste Klasse, die die systematische Ausbeutung der Arbeit betreibt und den extrahierten Mehrwert zur weiteren Kapitalmehrung investiert, statt ihn für Luxusgüter, Kriege, Kathedralen und so weiter auszugeben. Der Kapitalismus wiederum wird seinerseits zu einem die weitere Entwicklung der Produktivkräfte hemmenden Bremsschuh und muss deshalb durch das Proletariat, das er erzeugt, gestürzt und durch die klassenlose Herrschaft des Kommunismus ersetzt werden.
Auf der technischen Ebene tat Marx sich zudem schwer mit der Erklärung, warum der Kapitalismus untergehen
musste.
Er hatte es verdient unterzugehen; die Expropriateure hatten es verdient, expropriiert zu werden. Die Gerechtigkeit verlangte, dass es so kam. Aber warum und wie würde der Kapitalismus untergehen? Es war dieses Problem, dem Marx den Großteil seines Lebens widmete, und doch konnte er es nicht
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