Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
Volkswirtschaften der entwickelten Welt nicht nur viel schneller als jemals zuvor gewachsen, das Wachstum war auch viel gleichmäßiger verlaufen. Und selbst die Entwicklungsländer schienen den Sprung auf den Wachstumszug geschafft zu haben. Die Furcht vor einer kapitalistischen Krise verschwand.[ 46 ] Das Problem betraf nun nicht mehr irgendwelche Hürden, die uns bei der Erreichung des Überflusses im Weg standen, sondern Hürden, die uns am Genuss des erreichten Überflusses hinderten.
Für die Philosophen im Garten des sexuellen Utopias war die Schlange im Garten nicht der Kapitalismus als solcher, sondern vielmehr die Technologie. Der amerikanische Historiker Theodore Roszak, Autor eines Standardwerks über die Protestbewegung der 1960er-Jahre, sprach von einem »technokratischen Totalitarismus«,[ 47 ] dessen Absurdität sich am konkretesten im atomaren Wettrüsten manifestierte, der die Menschheit just in dem Moment auszulöschen drohte, da sie kurz vor der Rückkehr ins Paradies stand.
Dr. Seltsam, oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben
ist die klassische filmische Verarbeitung dieses Albtraums. Doch der technologische Fortschritt war janusköpfig, nicht nur schlecht, sondern auch gut, denn er hatte den Menschen – oder zumindest die Menschen in Nordamerika – vom Joch der Armut befreit. Charles Reich formulierte das so:
Wesentlich ist, dass die Technik diesen
Wandel in der menschlichen Natur
ermöglicht hat, der so lange Zeit gesucht worden war, aber nicht gefunden werden konnte, weil die Knappheit der Mittel es verhinderte. So einfach ist das: Wenn es genug Essen und Obdach für alle gibt, braucht der Mensch seine Gesellschaft nicht länger auf der Annahme zu gründen, dass alle Menscheneinander feindlich gesinnt sind. Das, was wir
menschliche Natur
genannt haben, war das Werk der Notwendigkeit – der Notwendigkeit, die sich aus der Knappheit und dem Marktsystem ergeben hatte. Die neue menschliche Natur – Liebe und Achtung – gehorcht auch dem Gesetz der Notwendigkeit. Sie ist notwendig, denn wir können nur gemeinsam die Früchte des technischen Zeitalters ernten.[ 48 ]
Obgleich die Studentenproteste in den späten 1960er-Jahren wie eine ansteckende Krankheit auf sämtliche Bildungszentren der westlichen Welt übergriffen, ihr Herzland waren die Vereinigten Staaten. Der Aufstand der Jungen gegen die Werte der Elterngeneration war nicht auf Studenten beschränkt, der politische Radikalismus der 1960er-Jahre aber sehr wohl. Das hatte mehrere Gründe: die amerikanische Tradition utopischer Experimente, der größere Wohlstand der Amerikaner im Vergleich zu den Europäern und der Vietnamkrieg. Vielleicht der wichtigste Faktor aber war der weitaus höhere Anteil junger Amerikaner, die an Universitäten und Colleges studierten. Die Welt der Arbeit lag für viele junge Amerikaner weiter – fünf oder sechs Jahre – entfernt in der Zukunft als für die meisten jungen Europäer. Das erzeugte eine psychologische Diskordanz zwischen Adoleszenz und Arbeit, die nach Meinung etlicher hegelianischer Revolutionsphilosophen ausreichend stark war, um als Widerspruch zu gelten. Die neuen freudianischen Marxisten betrachteten die Universitäten als Bildungsfabriken, die eine neue revolutionäre Klasse ausbrüteten. Der Radikalismus der 1960er-Jahre war ein Campus-Phänomen, theoretisiert und gefördert von dort lehrenden Professoren.
Unter diesen war keiner einflussreicher als der Emigrant und Philosoph Herbert Marcuse, der eine neue Doktrin der erotischen Befreiung mit starkem deutschem Einschlag verkündete. Marcuses Bücher
Triebstruktur und Gesellschaft
und
Der eindimensionale Mensch
wurden zu den Bibeln des Studentenprotests. Das von ihm geprägte Konzept der »repressiven Toleranz« definierte für die radikalen Studenten die spezielle Eigenart der amerikanischen Zivilisation. Wie Marx standMarcuse in der Tradition des jüdischen Messianismus, in dem »sämtliche Diskussionen über reale und authentische menschliche Werte auf die Eschatologie reduziert werden« und der »die Tore zu einem unbußfertigen und optimistischen Utopia aufstößt, das unmöglich beschrieben werden kann in Konzepten, die auf einer unerlösten Welt basieren«.[ 49 ]
Ungeachtet seiner oft undurchdringlichen Prosa war Herbert Marcuse ein verspielter Teufel. Die einzig wahrhafte progressive Haltung, sagte er, sei die der Verleugnung. »Das, was ist, kann nicht wahr sein«, lautete eines seiner Bonmots. Da die gegebenen Fakten, die
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