Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
Wir mussten uns nur von diesem Apparat befreien, und schon würden unsere Begierden auf ihr »natürliches« Maß zurückgehen. Er verstand nicht, dass das Begehren des Menschen sich automatisch vermehrt, es sei denn, es wird durch moralische Disziplin in Schach gehalten. Der Hedonismus der 1960er-Jahre führte naturgemäß zum Konsumismus der 1980er-Jahre.
Der Kapitalismus, haben wir argumentiert, gründet auf einem faustischen Handel. Die Teufel der Habgier und des Wuchers wurden von der Leine gelassen, mit der stillschweigenden Annahme, dass sie, nachdem sie die Menschheit aus ihrer Not und Armut befreit hatten, wieder – und zwar endgültig – von der Bühne abtreten würden. Ein Paradies des Überflusses würde folgen, eine Welt, in der alle Menschen die Möglichkeit hatten, so zu leben, wie es bis dahin nur die Reichen gekonnt hatten. Dieser Mythos findet sich in verschiedenen Variationen bei Marx, Mill, Marcuse und anderen. Die Zeitpläne und Mechanismen unterschieden sich, aber alle waren sich darin einig, dass früher oder später die glückliche Stunde schlagen würde.
Doch wie wir aus Märchen und Sagen wissen, erfüllt der Teufel seine Versprechen nur nach ihrem Wortlaut, nicht nach ihrem Geist. Ja, wir sind heute reicher als jemals zuvor, und ja, die durchschnittlichen Arbeitszeitensind zurückgegangen, wenn auch nicht in dem von Keynes erwarteten Maße. Aber das Zeitalter des Überflusses ist nicht gekommen. Das unbarmherzige Streben nach materiellen Vorteilen – das schon von Mills beklagte »Stoßen, Drängen [und] einander auf die Fersen Treten« – bleibt bis auf absehbare Zukunft hinaus unser Los. Der Stollen wirtschaftlicher Notwendigkeit, der uns in das helle Tageslicht der ökonomischen Glückseligkeit führen sollte, erstreckt sich endlos vor uns.
Wie in Kapitel 1 gezeigt, bestand Keynes’ Irrtum in der Annahme, unsere materiellen Begierden seien von Natur aus endlich. Aus diesem Grund, und nur aus diesem Grund, konnte er sich mit der Aussicht abfinden, dass wir ihnen zügellos frönen würden: Eines Tages, so seine Überzeugung, würden sie alle erfüllt sein und könnten wir uns »höheren Zielen« widmen. Wir wissen es besser. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass die materiellen Begierden keine natürlichen Grenzen kennen, dass sie ohne Ende immer weiter zunehmen, es sei denn, wir schränken sie bewusst ein. Der Kapitalismus basiert ja gerade auf dieser grenzenlosen Expansion der Begierden. Was im Übrigen auch der Grund ist, warum er trotz aller seiner Erfolge so wenig geliebt wird. Er hat uns zwar Wohlstand über alle Maßen beschert, doch zugleich den größten Vorzug dieses Wohlstands weggenommen: das Bewusstsein, genug zu haben.
Die Denker der vormodernen Welt waren frei von solchen Illusionen. Wie Keynes unterstellten sie dem menschlichen Streben nach materiellen Dingen ein inhärentes Ende oder Ziel, anders als er aber gingen sie nicht davon aus, dass dieser Drang nach Erreichen des Ziels urplötzlich verschwinden würde. Sie wussten, dass der Erwerbstrieb immer zum Exzess neigt und seine Eingrenzung unweigerlich einen willentlichen Aufwand erfordert. Weil sie keine »Dialektik« erkannten, durch welche die Gewinnsucht zu einem guten Zweck gewendet werden könnte, kam es ihnen auch nie in den Sinn, sie von ihren moralischen Fesseln zu befreien. Die Denker der Antike waren in diesem Punkt einer Meinung. Selbst Epikur, der Erzhedonist, war der Meinung, dass Genuss am besten zu erreichen sei durch die Unterdrückung aller überflüssigen Begierden, einschließlich der Gier nach Reichtum. Doch sein Rat wird vonden meisten modernen Hedonisten, Erben des romantischen Kultes des Überflusses, ignoriert.
Das ökonomische Denken aus der Zeit vor der Aufklärung wird oftmals als eine Gemengelage aus Bigotterie und Unwissenheit abgetan. Doch das Versagen des modernen Zeitalters, sein utopisches Versprechen einzulösen, lässt die alten Weisheiten in einem freundlicheren Licht erscheinen. Der Kapitalismus hat, wie inzwischen klar sein dürfte, keine in ihm angelegte Neigung, sich zu etwas Edlerem, Höheren zu entwickeln. Auf sich allein gestellt, wird die Maschinerie der Begierdenerzeugung immer weiter malmen, ohne Ende und ohne Ziel. Wenden wir uns also diesen halb vergessenen, vormodernen Denkern zu; vielleicht besitzen sie ja den Schlüssel zur Lösung der misslichen Lage, in der wir uns heute befinden.
* Die ökonomische Bedeutung des Protestantismus ist in
Weitere Kostenlose Bücher