Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
allumfassend.[ * ]
Das erste Prinzip von Aristoteles’ moralischen Überlegungen lautet, dass der Mensch, wie alle Lebensformen, ein
Telos
hat, einen Zustand der Erfüllung oder Vollendung. Aristoteles identifizierte dieses
Telos
mit dem guten Leben, dem
Euzen,
denn dies ist die einzige Sache, bei der die Frage »Wofür ist es gut?« ohne Sinn ist. Das Leben kennt kein anderes Ziel als seine eigene Vervollkommnung; diese Vervollkommnung irgend einem entfernten Ziel zu opfern – der Revolution oder, sagen wir, dem Erfolg der Konzernmarke –, wäre töricht oder schlimmer. Doch das ist beileibe kein Freibrief für Nachgiebigkeit gegen sich selbst. Der Landstreicher in dem Lied, der von einer Welt träumt, in der Hühner weichgekochte Eier legen und von den Felsen der Alkohol fließt, strebt kein gutes Leben im aristotelischen Sinne an. Das gute Leben ist nicht einfach eines der erfüllten Begierden, es beschreibt vielmehr das angemessene
Ziel
des Begehrens. Das Streben muss kultiviert, auf das wahrhaft Begehrenswerte ausgerichtet werden. Sittliche Erziehung heißt Erziehung der Gefühle.
Heute, da die ethische Debatte von den Großmeistern der Pflichterfüllung auf der einen und denen der Selbstverwirklichung auf der anderen Seite dominiert wird, tritt kaum jemand mehr für Aristoteles’ Konzept des guten Lebens ein. Den Parteigängern der Pflichterfüllung erscheint es selbstbezogen und aufgesetzt: »Mein Ziel ist es nicht, ein gutes Leben zu führen«, könnte etwa ein Umweltaktivist sagen, »sondern, den Planeten zu retten.« Und den Anhängern der Selbstverwirklichung erscheint es hoffnungslos paternalistisch, wenn nicht einfach bedeutungslos. Das »gute Leben« ist doch etwas, was jedes Individuum für sich selbst definieren muss, entsprechend seiner ganz persönlichen Vorlieben und Überzeugungen. »I did it my way«, singt Frank Sinatra, und wir applaudieren. Diese beiden Prinzipien, Pflichterfüllung und Selbstverwirklichung, bestimmen zusammen das moderne moralische Empfinden, das eine reguliert die Art und Weise, wie wir mit unseren Mitbürgern umgehen, das andere unsere privaten Explorationen. Platz für das gute Leben bleibt da nicht.
In der Welt der Antike dagegen stand die Frage nach dem bestmöglichen Leben im Zentrum der sittlichen Debatte. Die Antworten daraufreichten vom politischen Aktivismus des Perikles auf der einen bis hin zum philosophischen Quietismus Epikurs und seiner Anhänger auf der anderen Seite. Aristoteles’ Beitrag zu dieser Debatte ist, typisch für ihn, vermittelnder Natur. Er lobt die staatsbürgerliche und militärische Gesinnung, wo er nur kann, bevor er sich schlussendlich für die Philosophie ausspricht – für eine Lebensweise, die »durch ihre Reinheit und Dauer großartige Lust gewährt«.[ 2 ] (Aristoteles hatte ganz offenkundig nicht die blasseste Ahnung von den Zuständen in der modernen akademischen Philosophie.) Wichtig hierbei sind aber weniger die Einzelheiten dieser Debatte, als vielmehr zwei Annahmen, die von allen Teilnehmern geteilt wurden. Dabei handelt es sich a) um die Annahme, dass eine bestimmte Lebensführung besser
ist
als andere, unabhängig von den individuellen Vorlieben und Überzeugungen, und b) die Annahme, dass diese beste Lebensführung sich in der Muße findet. Arbeit war für die alten Griechen allein ein Mittel zum Zweck und kam deshalb als Element eines guten Lebens erst gar nicht in Betracht. Nur Tätigkeiten ohne einen äußeren Zweck – vor allem die Philosophie und die Politik, beide nichtinstrumentell aufgefasst – konnten auf einen Platz auf der Auswahlliste hoffen. Eine Einstellung, die, wie wir sehen werden, noch sehr lange nachwirken sollte.
Ein gutes Leben, argumentiert Aristoteles, verlangt nicht nur die unterschiedlichen Vorzüge des Charakters und Verstands (Mut, Mäßigung, Großzügigkeit und Weisheit neben anderen), sondern setzt auch die zu ihrer Verwirklichung erforderlichen »äußeren Mittel« voraus: »Denn ohne das Notwendige ist sowohl das Leben unmöglich als auch das gute Leben.«[ 3 ] Dabei denkt Aristoteles an Dinge wie Land für den Ackerbau, Sklaven zu seiner Bestellung, Unterkunft, Kleidung, Möbel und so weiter – an Dinge also, die notwendig sind, weil wir sie in einer bestimmten Weise gebrauchen, sprich an den »Gebrauchswert« der Dinge, wie die Marxisten sagen. In welcher Art und Menge genau diese Gebrauchswerte erforderlich sind, hängt von der Art Leben ab, das unterstützt werden will. Ein
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