Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
auf, und mir ist, als hörte ich im Hause eine Stimme seufzen und sagen, dass letzte Nacht jemand gestorben sei. Ich erkundige mich sofort, wer es ist, und höre, es war der schäbigste, berechnendste Kerl in der ganzen Stadt. Ist das vielleicht nicht Glück?
Mit einem scharfen Messer an einem Sommernachmittag auf einem großen dunkelroten Teller in eine hellgrüne Wassermelone schneiden. Ist das vielleicht nicht Glück?
Ein Fenster öffnen und eine Wespe aus dem Zimmer lassen. Ist das vielleicht nicht Glück?
Sehen, wie jemandem die Drachenschnur reißt. Ist das vielleicht nicht Glück?[ 21 ]
Hier haben wir eine Vorstellung von einem guten Leben, die so ganz anders ist als alle, die wir bisher betrachtet haben. Chins Liste ist weder Spiegelbild eines philosophischen oder religiösen Ideals, noch drückt sich darin ein Streben nach Selbstvervollkommnung oder Selbstopferung aus. Sie ist nichts weiter als ein Verzeichnis einiger weniger unbedeutender Augenblicke der Glückseligkeit – einige großherzig, andere schrullig, manche regelrecht schadenfreudig. Bis die Romantik den Lesern im Westen lehren sollte, ihre Gedanken solchermaßen frei und ziellos umherwandern zu lassen, mussten nochmals zwei Jahrhunderte vergehen.
Die Erlebnisse, die Chin auflistet, kosten wenig oder kein Geld, und dieser Umstand ist wichtig für ihren Reiz. Hätte Chin über den Genuss geschrieben, den ihm der Verzehr einer Bärentatzensuppe bereitet oder der Anblick eines Schmuckstücks aus weißer Jade, wäre uns das lediglich exotisch vorgekommen. Doch weil er von ganz einfachen, universellen Dingen schreibt, wirkt er zutiefst menschlich. Der Taoismus war, wie der Epikureismus, eine Philosophie der einfachen Freuden. Sein Ideal war der
Jingshi,
der Eremit, der sich von der Gesellschaft zurückzieht, um Gedichte zu verfassen, Bilder zu malen oder einfach mit alten Freunden Tee zu trinken. Der
Jingshi
war jedoch kein Asket. Seine Bilder mochten Fischer oder Hirten zeigen, dass er selbst derlei niedere Tätigkeiten verrichtete, stand allerdings außer Frage. Wie andernorts war die Armut auf dem Lande auch in China etwas, über das man meditierte, nicht etwas, das man lebte.
Die alte chinesische Literatur kennt nichts derart Präzises wie Aristoteles’ Betrachtungen der verderblichen Auswirkungen des Geldes, aber der Grundgedanke wurde im 1. Jahrhundert vor Christi auch von dem chinesischen Historiker Sima Qian wortreich dargelegt:
Der Wunsch nach Reichtum muss nicht gelehrt werden; er ist ein untrennbarer Teil aller menschlichen Natur. Wenn also junge Männer in der Armee Städte angreifen und Mauern erklimmen, durch die feindlichen Linien brechen und den Feind zurückdrängen […] dann tun sie dies, weil sie von der Aussicht auf reichen Lohn angetrieben werden […] Auf dieselbe Weise schminken die Frauen von Chao und die Mädchen von Cheng ihre Gesichter und spielen auf der großen Laute, flattern mit ihren weiten Ärmeln und tänzeln umher auf spitzen Pantoffeln, locken mit ihren Augen und flehen mit ihren Herzen und scheren sich nicht, wenn sie eintausend Meilen reisen müssen, um einen Gönner zu treffen, und ist es ihnen gleich, ob er alt ist oder jung, weil sie nach Reichtum jagen […] Wenn Beamte in der Regierung die Buchstaben des Gesetzes verdrehen, falsche Siegel schnitzen und Dokumente fälschen, ungeachtet der verstümmelnden Strafen des Messers und der Säge, die ihnen drohen, wenn man sie ertappt, dann tun sie das, weil siemit Geschenken und Bestechungsgeldern überhäuft werden […] So verwenden die Menschen ihr ganzes Wissen und nutzen alle ihre Fähigkeiten allein dafür, Geld zu horten. Und niemals bleibt ihnen noch die Kraft, über die Frage nachzudenken, ob sie nicht einen Teil davon hergeben könnten.[ 22 ]
Wie Aristoteles und die Verfasser der Dharmasutren ist Sima abgestoßen von der Macht des Geldes, alle menschlichen Betätigungen in seinen Bann zu ziehen. Und als gutem Konfuzianer stößt es ihm besonders übel auf, mit ansehen zu müssen, wie der öffentliche Dienst auf das Niveau der Prostitution und Kriegsführung reduziert wird. Zugleich aber scheint er überzeugt zu sein, dass gegen all das wenig auszurichten und dies eben der Lauf der Dinge in dieser Welt sei. Sein Ton ist einer der resignierten Ironie, nicht des reformistischen Eifers.
Wenn auch nicht von Aristoteles abgleitet, so war den alten Zivilisationen Indiens und Chinas doch dieselbe grundsätzlich aristotelische Perspektive wie denen
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