Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
Sekten trennen können.«[ 26 ] Vernünftigerweise gesteht Locke ein, dass wir in Anbetracht der Existenz eines Himmels und einer Hölle ein überragendes Interesse an tugendhaftem Verhalten haben müssen, fügt aber hinzu, dass, wäre dem nicht so, keine Lebensweise irgendeiner anderen vorzuziehen sei. Dieser skeptische Standpunkt hat unter dem Rubrum der »Gegebenheit der Bedürfnisse« Eingang in den wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream gefunden. Das Begehren ist damit nicht länger, wie noch im Altertum, ein Pfeil, der sein Ziel treffen oder verpassen kann; es ist eine bloße psychologische Tatsache, in sich schuldlos und unfehlbar. Es gibt keine intrinsisch wünschenswerte Lebensweise, nur eine Bandbreite
angestrebter Lebensweisen.
Sobald dieser Schlussstein des vormodernen ökonomischen Denkens herausgenommen wird, fallen die anderen Steine in rascher Folge zu Boden. Als Erstes geht die Unterscheidung zwischen Bedürfnissenund Begierden verloren. Bedürfnisse sind, in der klassischen Auffassung, objektiv; sie beziehen sich auf die Notwendigkeiten des Lebens beziehungsweise des guten Lebens. Begierden dagegen sind ein psychologisches Phänomen; sie existieren »im Kopf« des Wünschenden. Ein krankes Kind bedarf seiner Medizin, wünscht sie sich aber nicht. Der antiquarische Buchliebhaber wünscht sich eine Erstausgabe von Blake, aber er braucht sie nicht. Ein Bedürfnis für
x
begründet einen moralischen Anspruch auf
x,
die bloße Begierde nach
x
tut das nicht. Bettler reden von ihren Bedürfnissen, niemals von ihren Begierden.[ 27 ]
Nachdem sie das Ideal von einem guten Leben über Bord geworfen hat, kann die moderne Wirtschaftswissenschaft mit der Unterscheidung zwischen Bedürfnissen und Wünschen nicht mehr viel anfangen. Der Satz »Arthur braucht eine Jacke« muss als Kurzform verstanden werden für »Arthur braucht eine Jacke,
weil […]«,
wobei die Auslassungspunkte für irgendeinen von Arthur empfundenen Wunsch stehen. Drängt man sie, würden Ökonomen wohl das Vorhandensein lebensnotwendiger Bedürfnisse einräumen, wahrscheinlich aber hinzufügen, dass selbst diese abhängig sind von dem (üblicherweise zuverlässig vorhandenen) Wunsch, am Leben zu bleiben. Eine weitere häufig anzutreffende Strategie besteht darin, Bedürfnisse als eine spezielle Klasse von Begierden auszulegen – namentlich solche, die relativ unempfindlich gegenüber Preisänderungen beziehungsweise, um die Fachsprache zu bemühen, »preisunelastisch« sind. Zum besseren Verständnis unseres herkömmlichen Konzepts von Bedürfnissen trägt diese Umkategorisierung jedoch nicht bei. Heroin beispielsweise ist zwar preisunelastisch, aber die Süchtigen
brauchen es nicht
. Sie mögen sagen, dass sie »einen Fix brauchen«, aber ausgenommen Fälle, in denen ihr Leben in Gefahr ist, ist das im Wortsinne nicht wahr. Sie begehren nur sehr heftig einen Fix.
Mit der Unterscheidung zwischen Bedürfnissen und Wünschen fällt die eng damit zusammenhängende Unterscheidung zwischen Notwendigem und Luxuriösem. Das Notwendige im klassischen Sinne meint jene Dinge, die man für das Leben beziehungsweise für das gute Lebenbenötigt. Um mit Aristoteles zu sprechen: »[O]hne das Notwendige ist sowohl das Leben unmöglich als auch das gute Leben.«[ 28 ] Luxus dagegen sind Dinge, die man möchte, aber nicht benötigt. Auch hier sind beide Begriffe moralisch befrachtet: Notwendigkeiten sind Dinge, auf die man einen Anspruch hat, wenn auch nicht immer einen absoluten. Luxusartikel sind ein optionales und möglicherweise sogar verderbliches Extra. Das Notwendige sollte niemals zugunsten des Luxuriösen aufgegeben werden. Aber wenn es so etwas wie ein gutes Leben nicht gibt, kann »Notwendigkeit« ausschließlich auf Subsistenzgüter wie Nahrung, Kleidung und Unterkunft oder die Erfordernisse einer bestimmten sozialen Rolle bezogen werden. Und in diesem letzteren Sinne sind sie nur von der Konvention, nicht von Natur aus verschieden von Luxusgütern. Für den Topmanager ist ein Flug in der ersten Klasse eine Notwendigkeit, für den Rucksacktouristen nicht. Innentoiletten werden in Großbritannien heute als Notwendigkeit betrachtet, vor einem halben Jahrhundert aber noch nicht.
Als Nächstes fällt das Konzept der »Genügsamkeit«. Während »genug« für den Aristoteliker »genug für das gute Leben« bedeutet, kann es für den modernen Ökonomen nur »genug, um alle Begierden zu befriedigen« bedeuten. (In diesem Geiste könnte Billy
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