Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
Hidschab-Trägerinnen, noch bemüht sich irgendein liberaler Staat um Neutralität, was den Konsum von Heroin angeht. Auf der Ebene der intellektuellen Auseinandersetzung aber hat das Rawls’sche Ideal triumphiert. Heute werden selbst durch und durch paternalistische Politiken mit liberalen Argumenten begründet, beispielsweise sie würden mehr Wahlfreiheit schaffen oder Schaden von Dritten abwenden. So wird etwa die Pornografie aus dem zweifelhaften Grund verdammt, dass sie Frauen ausbeutet und Männer zur Vergewaltigung anstiftet, während ihr eigentliches Vergehen – die Herabsetzung von Geschmack und Gefühl – unerwähnt bleibt. Hier wie auch in anderen Bereichen hat das Prinzip der Neutralität einen abkühlenden Effekt auf die öffentliche Debatte und lenkt Auseinandersetzung über eigentlich ethische Argumente in sterile technische Nebengleise um.[ 23 ]
Das Prinzip der staatlichen Neutralität ist inzwischen so gründlich etabliert, dass wir manchmal ganz vergessen, wie revolutionär es eigentlich ist. Bis in die 1960er-Jahre hinein war der Liberalismus vorrangig eine Doktrin der Toleranz, nicht der Neutralität. Diese Unterscheidung ist wichtig. Toleranz ist nicht die bloße Abwesenheit von Voreingenommenheit, sondern eine positive ethische Tugend, die Nachsicht, Gelassenheit, eine positive Grundeinstellung und Achtung vor der Privatsphäre beinhaltet. Toleranz schließt eine öffentliche Präferenz für eine bestimmte moralische oder religiöse Doktrin gegenüber anderen nicht aus. Und schließlich muss Toleranz sich nicht auf das Untolerierbare erstrecken, während Neutralität ihrer inneren Folgerichtigkeit nach universell sein muss. Der tolerante Staat sieht sich nicht mit dem Dilemma konfrontiert, das dem neutralen Staat im Umgang mit Nekrophilen, Neonazis und dergleichen so zu schaffen macht.
Der Wechsel von der Toleranz zur Neutralität hat zwei hauptsächliche Gründe. Zum einen ist das der Niedergang des liberalen Protestantismus, der Hauptstütze der alten Kultur der Toleranz. Zum anderen die Tatsache der zunehmenden ethnischen und kulturellen Diversität. Ab den 1950er-Jahren öffneten die europäischen Staaten ihre Grenzen für eine große Zahl nichtweißer, nichtchristlicher Immigranten, während in Amerika die Vorherrschaft der WASP-Elite, also des weißen, angelsächsischen Protestantismus, immer stärker von Schwarzen, Katholiken und Juden herausgefordert wurde. Eine Folge dieser Entwicklungen war, dass jede öffentliche Präferenzbekundung – und mag sie noch so vorsichtig oder symbolisch sein – für eine bestimmte religiöse oder kulturelle Tradition als herabsetzend empfunden wird. Ironischerweise wurde und wird der Ruf nach Neutralität ebenso laut von schuldgeplagten Mitgliedern der ehemaligen Eliten erhoben wie von den Minderheiten selbst, von denen es viele vorziehen würden, im Schatten einer dominanten, aber toleranten Religion oder Kultur zu leben, statt unter einem unparteiischen, aber despotischen Säkularismus.[ 24 ]
Von noch größerer Bedeutung für die Entmoralisierung des öffentlichen Lebens sind die Wirtschaftswissenschaften, insbesondere in derArt, wie sie heutzutage an Universitäten und Businessschulen überall auf der Welt gelehrt werden. Die modernen Ökonomen – wir verallgemeinern hier, aber nicht sehr – verzichten bewusst darauf, Werturteile über Wünsche abzugeben. »Nichts wirft in volkswirtschaftlichen Kreisen ein so schlechtes Bild auf die Ausbildung eines Mannes«, schrieb Galbraith in seinem Klassiker
Gesellschaft im Überfluss,
»als wenn er sich erlaubt, die Nachfrage nach Lebensmitteln als legitim, die nach einem luxuriösen Auto aber als nichtig zu bezeichnen.«[ 25 ] Die Ökonomen sind voll und ganz dafür, alle (Konsum-) Wünsche zu befriedigen, zumindest innerhalb bestimmter Grenzen. Was diese Wünsche oder Bedürfnisse an sich aber angeht, legen sie eine gefährliche Indifferenz an den Tag.
Diese Eigenart der Wirtschaftswissenschaften liegt mit in dem Umstand begründet, dass die Disziplin ihre Wurzeln in der empiristischen Revolte gegen Aristoteles hat. »Deshalb war es wohl eine vergebliche Untersuchung der alten Philosophen«, schrieb John Locke, einer der Anführer dieser Revolte, »ob das höchste Gut in Reichtum oder in sinnlichen Genüssen oder in der Tugend oder in der Erkenntnis bestehe; sie hätten ebenso gut darüber streiten können, ob die Äpfel oder die Pflaumen oder die Nüsse am besten schmeckten, und sich danach in
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