Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
schließlich ganz außer Gebrauch. Im Gegensatz aber zu den Protestanten gab die katholische Kirche das Projekt, das wirtschaftliche Handeln der Menschen einem höheren Zweck untertan zu machen, niemals ganz auf. »Die Empfindung [schwand doch] niemals ganz«, schreibt etwa Max Weber, »dass es sich bei der auf Erwerb als Selbstzweck gerichteten Tätigkeit im Grunde um ein
pudendum
handle, welches nur die einmal vorhandenen Ordnungen des Lebens zu tolerieren nötigten.«[ 13 ] Eine wirtschaftliche Ordnung, die den menschlichen Anliegen untergeordnet ist – eine, in der die Reichtümer für die Menschen da sind, nicht der Mensch für den Reichtum, wie Antonin von Florenz das ausdrückte –, ist bis heute das Ziel des katholischen ökonomischen Denkens geblieben.
Eine rein säkulare Diskussion über das gute Leben wurde im alten Indien nicht geführt, einer Kultur, in der man weniger streng zwischen ethischen Fragen und solchen ritueller und religiöser Natur unterschied.[ *** ] Nichtsdestotrotz ergibt sich aus den Dharmasutren, den alten Gesetzeskodizes der Brahmanen, ein klarer Korpus von Einstellungen bezüglich Reichtum und Handel, die sich gar nicht so sehr von denen unterscheiden, die wir schon bei Aristoteles und den Scholastikern kennengelernt haben. Die Dharmasutren sprechen von drei Zielen im Leben:
Dharma
(Gesetz oder Rechtschaffenheit),
Artha
(Wohlstand) und
Kama
(Lust). Alle drei sind gut, aber nicht in gleichem Maße:
Dharma
ist
Artha
vorzuziehen, und
Artha
wiederum
Kama.
Wer, wenn Gesetz
(Dharma)
und Gewinn
(Artha)
in Widerstreit liegen, dem Gewinn den Vorzug gibt, muss schwereBußen auf sich nehmen. Fast so schlimm ist es,
Dharma
als Mittel für
Artha
zu missbrauchen. »Lasst ihn nicht den Gesetzen folgen zum Zwecke weltlichen Gewinns«, heißt es, »denn dann tragen die Gesetze zur Erntezeit keine Frucht. Es ist folgendermaßen: Ein Mann pflanzt einen Mangobaum, weil er die Früchte begehrt, bekommt dazuhin aber Schatten und Wohlgeruch. Gleichermaßen erhält ein Mann, wenn er dem Gesetz folgt, darüber hinaus zusätzliche Vorteile. Selbst wenn er sie nicht nutzt, so ist zumindest doch dem Gesetz kein Schaden getan.«[ 14 ] Das erinnert uns an Aristoteles’ Verachtung für »Leute, [die] alle Fertigkeitskünste zu kapitalerwerbenden [machen]«. Wie Aristoteles legen auch die Verfasser der Dharmasutren großen Wert darauf, die Integrität der höheren Ziele vor der relativierenden Macht des Geldes zu schützen – vor seiner Fähigkeit, alles mit allem handelbar zu machen.
Diese Vorstellung von einer Hierarchie der Ziele, in welcher dem Reichtum eine nachrangige Position zugeordnet ist, ist der Kastenstruktur des alten Indiens implizit. Die Dharmasutren listen vier nach Stellung geordnete Kasten auf: erstens die priesterlichen Brahmanen, gefolgt von den Kshatriyas, dem Stand der Krieger und Könige, drittens die Vaishyas, Großgrundbesitzer und Händler, und viertens die Shudras, Arbeiter und Handwerker. Inwieweit diese Hierarchie jemals der sozialen Realität entsprach, ist umstritten, doch als idealisiertes Selbstbild der hinduistischen Zivilisation hat sie seit jeher eine wichtige normative Rolle gespielt.
Das indische Kastensystem verkörpert ein den drei Ständen des mittelalterlichen Europa verblüffend ähnliches Gesellschaftskonzept. Hier wie da haben wir es mit einer Rangordnung der Klassen zu tun, in der die Priester an der Spitze stehen, gefolgt von den Kriegern an zweiter und der arbeitenden Bevölkerung an dritter Stelle. Der größte Unterschied betrifft die Stellung der Händler: In Indien stehen sie über den Kleinbauern, in Europa ist ihr Status unbestimmt.[ 15 ] Was die Untergeordnetheit der Arbeit
im Allgemeinen
im Vergleich zu religiöser Kontemplation oder dem politischen Handeln angeht, herrscht völlige Übereinstimmung. Den Brahmanen ist nur in Zeiten der Not der Feldbau oder der Handel erlaubt, und das Verleihen von Geld gegen Zinsen ist ihnen ganz und gar verboten.[ **** ]Ihre Pflicht ist es, sich durch Lehrtätigkeiten und die Amtsführung bei Opferritualen einen Unterhalt zu verdienen oder ansonsten ein Leben als Eremit oder Wanderasket zu führen. So zumindest lautete das Ideal; tatsächlich sorgte ihr Monopol auf die rituelle Macht dafür, dass die Brahmanen, nicht anders als der Klerus in Europa, unermesslich reich wurden. Aber auch ein vernachlässigtes Ideal bleibt ein Ideal. Dass an der Spitze des Kastensystems eine wenigstens nominell asketische und kontemplative
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