Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
Europas zueigen. Hier wie dort galten Handel und Gelderwerb offiziell als der Politik und der Kontemplation untergeordnet, hier wie dort fürchtete man die Macht des Geldes, diese anderen Aktivitäten seinem eigenen Zweck untertan zu machen. Und hier wie dort sah man in der Liebe zum Geld um seiner selbst willen einen Ausdruck geistiger Verirrung. Ein solches Maß der Übereinstimmung zwischen drei großen und weitgehend voneinander unabhängigen Kulturen sollte uns Grund zum Innehalten geben. In Dingen, die das Wohl des Menschen betreffen, kann die Weltmeinung sich nicht völlig im Irrtum befinden. Zudem sind wir selbst weitaus aristotelischer, als unser offizielles Denken uns einzugestehen erlaubt. Was auch immer die Verfechter des Wachstums uns erzählen mögen, im Innersten wissen wir, dass Geld im Grunde genommen nichts anderes ist als ein Mittel, das uns erlaubt, die guten Dinge im Leben zu genießen, kein Zweck und Ziel an sich. Denn: Gesundheit, Liebe und Muße zugunsten eines bloßen Bündels Papier oder elektrischer Impulse zu opfern – was könnte törichter sein als
das?
D ER N IEDERGANG DES GUTEN L EBENS
So laut es auch nachhallen mag, das Ideal vom guten Leben gehört in der westlichen Welt nicht mehr zum Kanon der öffentlichen Debatte. Politiker führen ihre persönlichen Überzeugungen, Effizienzgründe oder den Schutz von Rechten an, wenn sie für ihre bestimmte Sache streiten. Kein Politiker sagt: »Ich bin überzeugt, diese Politik wird den Menschen helfen, ein fruchtbares und zivilisiertes Leben zu führen.« Bei Diskussionen und Gesprächen im privaten Bereich sieht es nicht viel anders aus. Wie viele Lehrer haben schon versucht, ihre Schüler für irgendwelche Fragen der Ethik oder Ästhetik zu interessieren, nur um in einem Ton überdrüssiger Herablassung erzählt zu bekommen, dass das sowieso doch alles nur Ansichtsfragen seien?
Durch diese Entwicklung ist der Erwerbsdrang von allen Fesseln befreit worden. Wenn es so etwas wie ein gutes Leben nicht gibt, dann hat der Gelderwerb kein absolutes Ziel, nur ein relatives wie in »so viel wie« oder »mehr als« die anderen; ein Ziel, das, da es von anderen ebenso verfolgt wird, auf ewig in unerreichbarer Ferne bleiben muss. Stellen Sie sich zwei Männer vor, die auf dem Weg in eine Stadt sind. Unterwegs verirren sie sich, doch sie gehen weiter, nun allein von dem Ziel getrieben, vor dem anderen zu bleiben und ja nicht ins Hintertreffen zu geraten. So ungefähr sieht unsere Situation aus. Haben sich alle intrinsischen Ziele aufgelöst, bleiben nur zwei Möglichkeiten: vorne sein oder hinten liegen. Der Positionskampf wird zu unserem Los und Schicksal. Wenn es keinen richtigen Platz gibt, dann ist der beste Platz der an der Spitze.
Wie lässt sich der Niedergang des Ideals von einem guten Leben erklären? Im vorherigen Kapitel haben wir die Geschichte des Gedankens nachgezeichnet, man könnte schlechte Motive aufgrund ihrer guten Auswirkungen gutheißen. Doch für die Autoren, die wir untersucht haben – Mandeville, Goethe, Marx, Marcuse und Keynes –, stand unverrückbar fest, dass das Schlechte genau das ist: schlecht. Keiner von ihnen glaubte, dass gut böse und böse gut sei, auch wenn sie vielleicht in anderen einen solchen Glauben ermutigten. Die letzten beiden Jahrzehntehaben jedoch den Triumph zweier Bewegungen gebracht, die zusammengenommen die Begrifflichkeit von »gut« und »böse« infrage stellen – die Rede ist von der modernen liberalen Theorie auf der einen und der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft auf der anderen Seite. Diese beiden Denkschulen haben zusammen ein virtuelles Monopol auf den öffentlichen Diskurs errichtet und ältere moralische Traditionen in eine marginale, fast schon gegenkulturelle Position gedrängt.
Seit dem Erscheinen von John Rawls’
Eine Theorie der Gerechtigkeit
im Jahr 1971 werden liberale Denker nicht müde, auf der öffentlichen Neutralität bezüglich rivalisierender Konzeptionen des Guten zu beharren.[ ****** ] Der Staat, behaupten sie, habe kein Recht, mit seinem Gewicht diesen oder jenen ethischen Ansatz zu fördern; vielmehr sollte er es seinen Bürgern freistellen, ihren jeweils eigenen moralischen Zielen nachzueifern, insofern dies mit der Freiheit der anderen vereinbar ist, dasselbe zu tun. Überflüssig zu erwähnen, dass dieses philosophische Ideal in der Praxis noch nirgendwo in reiner Form umgesetzt worden ist. Der französische Staat ist weder neutral in seinem Umgang mit
Weitere Kostenlose Bücher