Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
Shylocks entpuppt sich keineswegs als positive Leidenschaft, sondern schlicht als eine Präferenz für zukünftigen gegenüber sofortigem Konsum beziehungsweise als Ausdruck einer gewissen Risikoabneigung. Manche sehen darin ein Zeichen des geistigen Fortschritts. Wir neigen eher der Ansicht zu, dass es sich um eine Regression im ökonomischen Denken handelt.
Halten wir einen Moment inne und ziehen Zwischenbilanz. Die im vormodernen ökonomischen Denken gezogenen Grenzen – zwischen Bedürfnissen und Begierden, zwischen Grundbedarf und Luxus, zwischen Gebrauchs- und Tauschwert – basieren ausnahmslos auf der Annahme, dass bestimmte Lebensweisen intrinsisch, also von ihrer Anlage her, anderen überlegen sind. Die moderne Wirtschaftswissenschaft hat mit dieser Annahme aufgeräumt, sie hat nicht länger den Anspruch, das Gute zu verwirklichen, sondern beschränkt sich darauf, Bedingungen zuschaffen, die es den Menschen erlauben, das, was sie für das Gute halten, zu verwirklichen. »In Anbetracht der Vielzahl der miteinander konkurrierenden Vorstellungen des guten Lebens«, schreibt der amerikanische Ökonom Robert H. Frank und bringt damit die orthodoxe Sichtweise auf den Punkt, »könnte das Beste, was wir von unseren gesellschaftlichen Institutionen erwarten dürfen, womöglich darin bestehen, dass sie uns die größtmögliche Freiheit dabei gewähren, ein Leben nach unseren eigenen Maßgaben zu gestalten.«[ 32 ] Ökonomen geht es nicht darum, die menschliche Natur neu zu gestalten. Sie nehmen die Menschen, wie sie sind, nicht, wie sie sein sollten. Und nach all den furchtbaren Dingen, die im Namen des Himmels oder irgendwelcher Utopien auf Erden schon verübt worden sind, scheint ihnen das auch eine angemessen bescheidene Haltung.
Aber warum – könnte ein Kritiker an dieser Stelle einwerfen – sollten wir dem, was Ökonomen sagen, bevorzugt Beachtung schenken? Schließlich sind sie nichts weiter als ein Haufen Wissenschaftler unter vielen Wissenschaftlern, und dazuhin noch nicht einmal ein sonderlich beliebter Haufen. Doch sie auf diese Weise abzutun, wäre höchst unklug. Die Wirtschaftswissenschaft ist nicht einfach irgendeine akademische Disziplin. Sie ist die Theologie unseres Zeitalters, die Sprache, die alle, ob hochgestellt oder von niederem Rang, beherrschen müssen, wenn sie an den Höfen der Macht wirklich Gehör finden wollen. Sie verdankt ihren Sonderstatus nicht zuletzt dem Unvermögen anderer Wissenschaften, der politischen Debatte ihren Stempel aufzudrücken. Die Philosophie war bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein ein bedeutender Faktor in der öffentlichen Debatte, bevor sie sich in linguistischer Haarspalterei verlor. Die Soziologie warf unter Max Weber und Talcott Parsons ihren Hut in den Ring, schaffte es aber nie, einen ausreichend systematischen theoretischen Korpus zu entwickeln, mit dem sie der Wirtschaftswissenschaft hätte Konkurrenz machen können. Die Historiker gaben sich der Verehrung der Macht hin, und wenn die Poeten und Kritiker einst als die »verkannten Gesetzgeber der Welt« gefeiert wurden, ein Anspruch, den T. S. Eliot und F. R. Leavis kurz wieder anfeuerten, dann haben siesich davon inzwischen längst schon wieder sang- und klanglos verabschiedet. Das Feld wurde den Ökonomen zur alleinigen Bestellung überlassen.
Im Triumph der Wirtschaftswissenschaft über ihre akademischen Konkurrenten spiegelt sich eine allgemeinere gesellschaftliche Veränderung wider, eine, die man vielleicht als den Zusammenbruch der institutionellen Autorität benennen könnte. Das Ideal des guten Lebens, in der Kirche und in der grundbesitzenden Aristokratie bewahrt und von einem aus Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern bestehenden »Klerus« propagiert, übte in Großbritannien bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einen großen Einfluss aus. In den Industriezentren bildeten sich aus gemeinsamen Arbeitsverhältnissen heraus Lebensweisen, die, wenn auch nicht unbedingt »gut« im aristotelischen Sinne, so zumindest doch mehr als nur ausschließlich auf Maximierung ausgerichtet waren. All das ist heute vergangen. Die Aristokratie, ihrer politischen Funktion beraubt, ist in den (Neu-)Reichen aufgegangen, der Klerus zu einem kleinen und einflusslosen Klüngel verkommen, die Kirchen von einst nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst und die Arbeiterklasse zerstreut und machtlos. Die neoklassische Wirtschaftslehre, atomistisch und subjektivistisch, hat sich aufgebläht, das Vakuum zu
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