Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
körperlicher Verfassung, um als fit zu gelten? Unsere Antwort auf diese Fragen wird davon abhängen, wie wir über die kriegerischen Tugenden, Sport, Sex und vieles andere denken. Kurzum, Gesundheitsurteile sind objektiv im selben Sinn und im selben Grad wie moralische Urteile: Sie beruhen auf einer Vorstellung davon, wann es Menschen gut geht.
In Anbetracht dieses Zusammenhangs ist die Beobachtung nicht überraschend, dass sich parallel zum Niedergang des teleologischenDenkens in unserer Kultur auch das Konzept Gesundheit aufgelöst hat. Der Prozess ist ähnlich dem, den wir bereits in Verbindung mit dem Geld festgestellt haben. Der frühere Begriff von Gesundheit als »Tipp-Topp-Zustand«, in dem alles »funktioniert, wie es soll« wurde zugunsten eines neuen Ideals der permanenten Verbesserung aufgegeben. Ein Symptom dieser Verschiebung ist unsere Fixierung auf Langlebigkeit. Früher verfolgte die Medizin das Ziel, Menschen zu helfen, dass sie ihre natürliche Lebensspanne ausschöpfen konnten. »In hohem Alter« zu sterben, war kein Verhängnis. Aber wenn es so etwas wie eine natürliche Lebensspanne nicht gibt, nur eine schwankende, je nach Kultur relative Norm, dann erscheint der Tod in
jedem
Alter als bedauerliches Versagen, das man verhindern kann. Die moderne Wissenschaft hat das alte Alchemistenversprechen der ewigen Jugend wieder hervorgeholt. Unterdessen werden Menschen, die noch vor ein paar Jahrzehnten schnell und relativ schmerzlos gestorben wären, in einem Zustand chronischen, qualvollen Leidens am Leben erhalten.[ ** ]
Die Orientierungslosigkeit ist auch daran abzulesen, dass die klare Trennung zwischen
Heilen
von Kranken und
Verbessern
von Gesunden verschwunden ist. Früher war die Trennlinie eindeutig: auf der einen Seite lebenswichtige Operationen, auf der anderen Seite Schönheitschirurgie. Aber wenn es so etwas wie perfekte Gesundheit nicht gibt, kann
jeder
unerwünschte Zustand als Krankheit definiert und medizinisch behandelt werden. (Und, wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, ist die Liste der Dinge, die Menschen womöglich unerwünscht finden, endlos.) Die Entwicklung wird durch die Pharmafirmen vorangetrieben, die ein starkes Interesse daran haben, Krankheiten zu identifizieren, die ihre Medikamenteheilen können. Ein typisches Beispiel ist Pfizer, der Hersteller von Viagra, der aus einem Zustand, der früher Bestandteil der menschlichen Komödie war, die furchteinflößende neue Krankheit »erektile Dysfunktion« gemacht hat.
Letztlich zerstört die Anpassung der Medizin an den ökonomischen Konkurrenzkampf die Vorstellung von Gesundheit. Wenn jeder körperliche Zustand im Vergleich mit einem anderen, vorgezogenen Zustand als defizitär betrachtet werden kann, dann sind wir alle in gewisser Weise dauernd krank. Die Welt wird, wie Goethe vorausgesagt hat, ein großes Krankenhaus, in dem jeder jeden pflegt. Mehr noch: Weil die Nachfrage nach Gesundheit unersättlich ist, steigen die Gesundheitskosten parallel zu den Einkommen oder noch stärker, und damit bleiben wir in der Tretmühle Arbeit/Wachstum gefangen. Es ist für unser Anliegen entscheidend wichtig, Gesundheit
nicht
in dieser Weise durch die Nachfrage zu definieren, sondern an der älteren Bedeutung – Gesundheit als natürliche Vollkommenheit des Körpers – festzuhalten. Denn nur in diesem Sinn kann sie ein Kriterium abgeben, wann wir genug haben.
Sicherheit.
Unter Sicherheit verstehen wir die berechtigte Erwartung eines Menschen, dass sein Leben weiterhin mehr oder weniger seinen gewohnten Gang gehen wird ohne Störung durch Krieg, Verbrechen, Revolution oder größere gesellschaftliche und wirtschaftliche Umbrüche. Sicherheit ist eine notwendige Bedingung für die Verwirklichung anderer Basisgüter auf unserer Liste, insbesondere von Persönlichkeit, Freundschaft und Muße. Aber Sicherheit ist auch ein Gut an sich. Wie jedes Lebewesen hat auch der Mensch eine Umwelt, eine Reihe selbstverständlicher Gegebenheiten, die den Rahmen seines Lebens darstellen. Wenn diese Umwelt sich abrupt oder häufig ändert, wird er verwirrt sein und sich bedroht fühlen, wie eine Katze in einer neuen Wohnung oder ein Zootier in freier Wildbahn. Natürlich haben wir als intelligente Wesen etwas in uns, das jede Umwelt transzendiert – »über dem Dach die Sterne wissen«, hat der Philosoph Josef Pieper das genannt.[ 14 ] Trotzdemsind Dächer und alles, was dazugehört, wichtig, nicht zuletzt, weil sie einen stabilen Standort bieten, um von
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