Wie viel ist genug?: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens. (German Edition)
dort aus zu den Sternen hinaufzublicken. Überall auf der Welt hat das Wort »Frieden« einen beruhigenden Klang, während »Tumult«, »Chaos« und ihre Äquivalente Unheil verheißen.
Natürlich gibt es Menschen – Tyrannen, Spekulanten, romantische Dichter –, die im Chaos aufblühen. Der große Vorsitzende Mao, Tyrann und romantischer Dichter, liebte das Chaos so sehr, dass er es umtaufte in »permanente Revolution«. In der westlichen Welt haben Bohème-Künstler und Intellektuelle die Sicherheit so lange verunglimpft, dass das Bekenntnis zu Sicherheit heute fast so schlimm ist wie das Eingeständnis, man möge Gartenzwerge. Tatsächlich aber lieben alle kreativen Geister die Sicherheit – auch die Dichter, wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich sind – als Bedingung ihrer Produktivität. W. B. Yeats betete 1919, als Irland in den Krieg schlitterte, seine kleine Tochter möge in Sicherheit aufwachsen:
Und bring ihr Bräutigam sie in ein Haus
Wo alles Sitte ist und guter Brauch;
Denn Arroganz und Hass, das sind die Sachen,
Die im Durchgang Kasse machen.
Was außer Brauch und Sitte sieht
Schönheit und Unschuld neugeborn?
Brauch ist ein Name für das reiche Horn
Und Sitte für den Lorbeer, der da blüht.[ 15 ]
Yeats war nicht immun gegen die Romantik der Unordnung. Er hatte fieberhaft über die »schreckliche Schönheit« des Osteraufstands 1916 geschrieben. Aber angesichts des realen Chaos war seine Entscheidung klar. Er wusste, dass extreme Unordnung in der Gesellschaft die Künste zerstören kann.
Welche Auswirkungen hat der Kapitalismus auf die Sicherheit? Im 19. Jahrhundert glaubten die Intellektuellen,
le doux commerce
(dersüße Handel) werde beruhigend auf die internationalen Beziehungen wirken, weil Länder, die miteinander Handel treiben, keine guten wirtschaftlichen Gründe hätten, gegeneinander Krieg zu führen. Dieses Argument hat etwas für sich, aber Handel treibende Länder können auch aus schlechten wirtschaftlichen Gründen miteinander Krieg führen oder aus
nicht
wirtschaftlichen Gründen. Im Innern ist der Effekt freier Märkte auf die Sicherheit weniger segensreich. »Alles Ständische und Stehende verdampft«, schrieb Karl Marx in einer berühmten Formulierung über die unendliche Umwälzung der Technologien, Fertigkeiten und Lebensweisen im Kapitalismus. Die wiederholte Auflösung des sozialen Geflechts ist für die Produzenten wie für die Konsumenten belastend. Besonders anstrengend ist es für die über 40- und 50-Jährigen, die womöglich den Geschmack am Neuen verloren haben. Marktfundamentalisten reagieren auf solche Einwände mit kaum verhohlener Verachtung. Wenn jemand an seinem Wohnort keine Arbeit findet, muss er eben umziehen; wenn eine Qualifikation nicht mehr gebraucht wird, muss der Betreffende eben umlernen. Das ist ein Rückschritt. Nicht die Menschen müssen sich dem Markt anpassen, sondern der Markt muss sich den Menschen anpassen. Das war das Leitprinzip der Sozialliberalen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Deren aufgeklärte Bemühungen, die durch den Kapitalismus verursachten Unsicherheiten zu minimieren, hat man inzwischen weitgehend aufgegeben, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden.
Respekt.
Jemandem Respekt zu erweisen, bedeutet, durch eine förmliche Geste oder auf andere Weise zu zeigen, dass man seine Ansichten und Interessen für beachtenswert hält, für etwas, das man nicht ignorieren oder mit Füßen treten darf. Respekt impliziert nicht Übereinstimmung oder Zuneigung: Man kann auch einen Feind respektieren. Respekt beinhaltet auch keine besondere Bewunderung. Doch er verlangt ganz sicher eine gewisse Anerkennung oder »Einbeziehung« des anderen Standpunkts, eine Haltung, die sich fundamental von der Haltung gegenüber Tieren unterscheidet. Man kann große Zuneigung zu einemHund haben, wird ihm aber weder respektvoll noch respektlos begegnen.[ *** ]
Respekt ist eine notwendige Bedingung für andere Basisgüter, insbesondere für Freundschaft. Aber Respekt ist auch für sich genommen ein Gut. Überall auf der Welt gilt Sklaverei – das heißt die vollkommene Verweigerung von Respekt – als fast so schlimm oder sogar noch schlimmer als der Tod. Tatsächlich wurde oft gesagt, die Sklaverei sei eine Art sozialer Tod, denn der Sklave ist zwar im biologischen Sinn noch ein Mensch, aber hat den
Status
eines Menschen verloren. »Dieser Blick wurde nicht zwischen zwei Menschen ausgetauscht«, schreibt der Auschwitz-Überlebende Primo Levi, als er sich
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