Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
teilhaben zu dürfen, aber mir ist noch nicht klar, wie ich auch Farina zu einer Veränderung bewegen kann. Die Zusammenarbeit mit einem suchtkranken Menschen erinnert an die Fahrt in einer Geisterbahn. Obwohl man ständig mit den Geistern rechnet, weiß man nie, wann sie auftauchen.
»Komm, wir gehen ein Stück und lassen ihn entspannen«, schlage ich vor und lade Farina mit einer Handbewegung ein, mit mir zu gehen.
»Dann wird er weglaufen, das weiß ich«, entgegnet Farina und eröffnet damit eine neue Runde. »Ich werde ihn nicht unbeaufsichtigt lassen.« Sie nimmt demonstrativ die Leine vom Boden auf. Gestört und alarmiert von Farinas Angst springt Lord auf und steigt an ihr hoch.
»Sch.« Sie geht grob in ihn hinein und wird rot vor Zorn.
»Farina, er versucht, alles richtig zu machen, also maßregele ihn bitte nicht für deinen Fehler.«
»Er hat mich angesprungen und klammert. Das macht er oft. Ich will das nicht.« Sie ist den Tränen nahe.
»Darf ich?« Ich nehme ihr die Leine ab und trete mit Lord ein Stück zurück. Er wird sofort ruhiger.
»Er hat dich eben dafür gemaßregelt, dass du ihn mit so einer Erregung überfallen hast. Aufregung ist eine Energie, aus der heraus sich viel Ungutes entwickeln kann. Es ist deshalb ein natürliches Bestreben, die Aufregung anderer zu beenden. Schüchterne Hunde versuchen das in Form einer Beschwichtigung, souveräne mit einer Maßregelung und ganz unsichere Hunde regen sich einfach mit auf. Ich will damit nicht sagen, dass Lord dich maßregeln darf, sondern nur erklären, warum er es tut. Wenn du dir sein Anspringen verbitten willst, müsstest du es ruhig und ohne Zorn tun. Solange er dich zornig machen kann, bist du in seiner Wahrnehmung schwach.«
»Mich macht aber wütend, dass ich ihm nicht vertrauen kann.« Sie schlägt plötzlich mit der Faust durch die Luft.
»Farina, ich habe in deinem Alter auch keinem mehr vertrauen können, aber ich habe mich bemüht, niemanden in mein Misstrauen einzusperren«, sage ich leise.
Sie blickt mich überrascht an. »Du? Du wirkst so, als wärst du schon immer sicher gewesen.«
Ich schüttele den Kopf. »Niemand ist immer sicher.«
Ihr verschlossener Blick reißt für einen kurzen Moment auf, wie ein Vorhang, der sich unerwartet öffnet. Dahinter erscheint eine Farina, die kindlich wirkt und sehr zart.
»Aber kannst du jetzt vertrauen?«, fragt sie vorsichtig.
»Ich bemühe mich immer wieder neu darum«, antworte ich und lächle. »Die Fähigkeit dazu habe ich von den Hunden gelernt.« Ich weise auf Lord. »Du hast ja gesehen, wie schnell er sich einem fremden Menschen wie mir anvertrauen konnte. Für ihn zählt nur, ob ich vertrauenswürdig bin oder nicht, ob ich gut mache, was ich mache, oder nicht. Wir Menschen mögen zwar erleben, dass uns jemand vertrauenswürdig erscheint, aber wir misstrauen dennoch, weil wir uns an frühere Erfahrungen erinnern. Ein Hund tut das nicht. Er ist nur im Hier und Jetzt. Das ist es, was ich immer wieder versuche zu leben. Ich gebe jetzt Vertrauen und kann mich zu jedem Zeitpunkt dagegen entscheiden, wenn ich spüre, dass es nicht mehr berechtigt ist. Verstehst du? Du bringst dich um sehr viele gute Erfahrungen, wenn du von vornherein beschließt, nicht zu vertrauen.«
Farinas Blick verdunkelt sich. »Das ist nicht so einfach für mich, bei ihm dieses Risiko einzugehen. Ich habe ja sonst keine Kontakte. Er ist das Einzige, was ich habe.« Sie bückt sich und streichelt dem inzwischen liegenden Hund den Kopf.
»Du hast zu überhaupt niemandem Kontakt?«, frage ich betroffen.
Sie schüttelt energisch den Kopf. »Nein, ich bin arbeitslos und habe unter anderem auch deshalb keine sozialen Kontakte, und vor meinen Eltern brauche ich Ruhe. Neben denen kann ich nicht atmen. Aber darüber will ich nicht reden.«
»Wie mutig von dir, dann hierherzukommen!«, sage ich anerkennend. Sie wird wieder rot und wirkt überrascht.
In der dritten Kursstunde fragt Farina, ob ich Zeit für eine weitere Einzelstunde hätte. Sie möchte sich mit mir zum Grunewaldsee wagen und sich Hundebegegnungen stellen. Es ist ihr noch nicht gelungen, Lord aus ihrer Anspannung zu entlassen. Nach wie vor bellt er an der Leine andere Hunde an, und nach wie vor muss er an der Leine bleiben, weil Farina in Panik gerät, wenn sie ihn freigeben soll. Es ist ihr anzumerken, dass sie versucht, einen winzigen, dünnen Vertrauensfaden zu mir zu spannen, der immer wieder abzureißen droht, wenn ihre Angst auftaucht. So
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