Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
freut sie sich beispielsweise erst über einen Termin, sagt ihn dann telefonisch wieder ab und am Tag darauf wieder zu.
»Farina, du wirst morgen wieder Angst haben, das ist ganz normal, wenn man sich seinen Ängsten zu stellen versucht. Aber gerade, wenn du Angst hast, brauchst du Unterstützung. Riskiere es doch einmal, mit deiner Angst zu kommen. Und wenn es zu schlimm wird, kannst du den Termin jederzeit beenden«, versichere ich ihr.
»Gut«, erklärt sie sich nun zaghaft einverstanden.
Als ihre dünne Gestalt am vereinbarten Treffpunkt am Grunewaldsee erscheint, bin ich sehr erleichtert und beeindruckt. Ich habe damit gerechnet, dass sie es sich im letzten Moment anders überlegt. Schließlich geht es heute um ihre schlimmsten Ängste, um Lords Freilauf und um Hundebegegnungen. Sie ist blass, und das Lächeln, das sie mir automatisch entgegenbringt, wirkt noch matter als sonst.
»Das finde ich wunderbar, dass du da bist. Lass uns eine schöne Stunde miteinander verbringen. Du wirst für dich und Lord ein Stück Freiheit zurückerobern. Ich werde für Lord die Verantwortung übernehmen, also darfst du dich entspannen. Wenn wir Hunde treffen, bleib bitte ruhig, sonst bekommt er einen falschen Eindruck von der Situation. Ich habe eine Schleppleine dabei.« Ich zeige auf eine fünf Meter lange Leine, die Lord auf dem Boden hinter sich herziehen soll. Ihre Augen werden groß.
»Du willst ihn doch wohl nicht frei laufen lassen?«
»Ich will«, sage ich und laufe los, bevor sie wieder in ihrer Angst verschwindet und es sich anders überlegt.
Der Weg um den See ist als Auslaufgebiet sehr beliebt, und ich habe ihn deshalb ausgesucht, weil wir hier sehr viele Hunde treffen werden. Die Kraft der Angst ist bei einem einzelnen Auslöser häufig stärker, als wenn man sich mit vielen Eindrücken zugleich auseinandersetzen muss. Ich rechne deshalb damit, dass Farina ihre Angst zwar bei einzelnen Hunden aufrechterhalten kann, aber nicht bei den Dutzenden von Hunden, die uns nun im Laufe einer Stunde begegnen werden.
Wir stoßen vom Wald aus auf den Weg um den See. Nachdem wir bisher keinen Hund getroffen haben, kommen uns nun gleich fünf Hunde von links und drei Hunde von rechts entgegen. Farina blickt auf Lord, der sich sofort in die Leine werfen will. Da ich die Leine halte, lasse ich sie fallen und bringe mich neben ihn, um ihn zu korrigieren, falls es notwendig wird.
Lord rennt auf die Hunde zu, die schnüffelnd oder Stöckchen tragend den Weg entlanglaufen. Dann stoppt er vor einer Berner Sennenhündin, wendet höflich den Kopf zur Seite und zeigt mit einem vorsichtigen Schwanzwedeln an, dass er sehr erfreut ist, sie zu treffen. Die Hündin schnüffelt interessiert an ihm. Er schnüffelt begeistert an ihr. Sie trennen sich. Weiter geht’s.
Einen Ridgeback-Rüden, der nun verspannt und steifbeinig auf Lord zugeht, halte ich für eine Herausforderung. Lord jedoch weicht ihm in großem Bogen aus und rennt begeistert zu einem Cocker Spaniel. Diesen fordert er zum Spiel auf, und ein herrliches Haschen und Fangen beginnt. Ich bin platt: Ohne Leine ist Lord ein völlig anderer Hund.
»Schau ihn dir an«, rufe ich Farina freudig zu. »Er ist ein Meister der Hundesprache und schwer von seinen Artgenossen begeistert.«
»Aber er hat den Hund damals angegriffen. Wir haben nur noch nicht den Typ Hund getroffen, den er angehen würde, aber das kann jeden Moment passieren«, behauptet Farina ängstlich.
»Stopp!«, sage ich und versuche, ihren Film anzuhalten.
»Wir sind nicht in deinem Erlebnis vor zwei Jahren, sondern hier und jetzt gemeinsam am See, um zu erleben, was gerade passiert. Schau hin.« Ich weise auf Lord, der wie ein junger Hund mit dem Cocker Spaniel tobt. »Du hast einen absolut sozialen Hund, was ein Wunder ist nach der langen Trennung von seinen Artgenossen. Was willst du mehr?« Ich blicke sie fragend an.
»Jetzt pass auf«, ruft Farina, ohne Lords Spiel Aufmerksamkeit zu schenken. »Dort hinten kommt ein Rottweiler, die findet er besonders schlimm, da reißt er sich immer fast los und will zu ihnen, um zu kämpfen.« Sie ist so bleich geworden, dass ich Angst habe, sie könnte umkippen. Da ich mich in meinem Gefühl auf Lord verlasse, fasse ich lieber Farina unter und gehe mit ihr dem Rottweiler entgegen.
»Farina, du musst dich deiner Angst jetzt stellen, sonst wird Lord sein ganzes Leben an der Leine laufen müssen, nur weil du Angst hast. Ich bin da und passe auf, und jetzt sieh hin, was
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