Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
passiert.«
Der Rottweiler zuckelt gemütlich heran, Lord blickt kurz zu ihm hin und spielt weiter. Der Rotweiler markiert mit einem Seitenblick auf Lord einen Baum, falls es später von Interesse für diesen sein könnte, wer hier vorbeikam. Dann entfernt er sich. Normalerweise würde ich herzhaft lachen über diese Szene, aber ich habe eine schlotternde junge Frau im Arm.
»Und?«, frage ich und blicke sie hoffnungsvoll an.
»Er kann Rotweiler sonst nicht leiden. Sie sind seine Todfeinde«, beharrt sie weiter.
Für einen kurzen Moment muss ich meine Enttäuschung herunterschlucken und mich daran erinnern, dass Farina diese Wahrnehmung braucht, um Lord weiter einengen zu können. Für ihn eine Tür aus dem Gefängnis zu öffnen würde bedeuten, auch für sich selbst eine Tür zu öffnen. Und durch eine Tür, durch die man hinausgehen kann, können auch ungebetene Gäste hineinkommen. Solange Farina nicht gelernt hat, »ihre Tür« gegen Übergriffe zu schützen, kann sie keine offene Tür zulassen. Farina braucht mehr Unterstützung, als ich ihr geben kann, und so schlage ich ihr schließlich eine Klinik vor, die ich durch meine ehemaligen Klientinnen mit Magersucht gut kenne.
Sie lehnt erschrocken ab: »Nein, das habe ich schon versucht, das will ich nicht wieder.«
»Aber wir kommen sonst kein Stück voran«, wende ich ein.
»Doch, ich schaffe es schon«, beteuert sie.
»Nein, Farina, ich muss dich bitten, diesen Weg zu gehen. Nur dann kann auch ich dich weiter unterstützen. Glaube mir.«
Sie blickt betroffen auf den Boden.
Ein paar Tage später klingelt das Telefon: »Du machst doch bald ein Frauenseminar. Wenn ich dort mitmachen könnte, verspreche ich, anschließend in die Klinik zu gehen. Ich brauche noch ein wenig mehr von deiner Zuversicht.« Farinas Stimme klingt sehr klar, als sie das sagt, und ich stimme zu.
Schüchtern und mit einem Dauerlächeln ausgestattet, erscheint Farina zum Seminar in Lietzen. Sie blickt sich zaghaft auf dem Vierseithof um, der einer Bildhauerin gehört, mit der ich seit dreißig Jahren befreundet bin. Erika ist heute um die Siebzig, von großer Vitalität und mit einer unermesslichen Schaffenskraft ausgerüstet. Auf ihrem Hof haben bereits viele Seminare stattgefunden, und ich habe diesen Ort deshalb gewählt, weil er bereits ein wichtiges Hilfsmittel darstellt. Er hat etwas von einem Ort, an dem man neu anfangen kann, weil man sich sofort gut aufgehoben fühlt. Man empfindet sich dort in besonderer Form »richtig«. Die aufgestellten Skulpturen wirken wie uralte Bewohner des Hofes. Auch der alte Brunnen, die alte Brandmauer im Abschluss und die wunderschöne Bepflanzung an den Stallwänden und im Hof machen diesen Ort zu etwas Schönem und Verlässlichem. Ich habe schon viele Menschen hierherkommen sehen und immer wieder erlebt, wie schnell sie hinter ihren modischen Verkleidungen zum Vorschein kamen. Besonders deutlich wird das durch einen »Schatz«-Schrank, der mit vergessenen Pullovern und ostdeutschen Fleischerhemden, Westen, Cordhosen, alten Jeans, Hüten und, nicht zu vergessen, vielen von Erika zur Verfügung gestellten Arbeitsstiefeln in allen Größen voll ist. Ich habe über die Jahre jedes Kleidungsstück kennengelernt, und es macht mir immer wieder Freude zu beobachten, wie schnell ein neuer Gast sich an dem Schrank bedient und plötzlich in einem solch zeitlosen Aufzug der einfachen und/oder fantasievollen Art auftaucht. Es scheint so, als wolle kein Besucher dem Hof etwas Fremdes entgegensetzen, um sich nicht selbst fremd zu fühlen.
Der Hof beginnt auch auf die zehn Frauen des Seminars zu wirken. Sie schnattern bereits nach einer Stunde vertraut und lachen zusammen, bis Silvia erscheint.
Silvia hat die besondere Fähigkeit entwickelt, Raum einzunehmen und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem sie aus irgendeinem spektakulären Grund zu spät kommt. (Ich kenne das bereits aus einem Kurs in Berlin.) Als sie gerade anhebt, die Geschichte ihres Zuspätkommens mit zahlreichen Ausschmückungen zu erzählen, unterbreche ich sie und beginne mit dem Seminar. Das sorgt bei ihr für einen wütenden Weinkrampf. Die anderen Frauen blicken irritiert von ihr zu mir, und als ich einfach weiterspreche, rennt Silvia ins Haus und knallt die Tür hinter sich zu. Farina ist starr vor Schreck. Fast kann ich Silvia dankbar sein, denn sie führt Farina gerade vor, dass man das Gegenteil von perfekt sein darf und das Leben in der Gemeinschaft danach trotzdem
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