Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
›Platz‹, ›Bleib‹ oder einem anderen Auftrag zu stören?« Der Mensch kontrolliert dabei nicht die Körperhaltung des Hundes, sondern seinen Bewegungsradius, der über einen zuvor vom Menschen bestimmten Platz nicht hinausgehen darf. Der Mensch lernt dabei, wie er körpersprachlich agieren und angemessen die Kontrolle über eine Situation übernehmen kann. Der Hund lernt, die Führung, die er häufig notgedrungen übernommen hatte, weil niemand sonst es tat, wieder abzugeben. Es geht also in der Übung um eine positive Veränderung von Beziehungsstrukturen, nicht um den Wechsel der Körperpositionen wie etwa von »Sitz« zu »Platz«.
Während alle Kursteilnehmer mit dieser Begrenzung arbeiten und dem Hund nur auf einer Decke, auf der er sich befindet, freien Raum lassen, beobachte ich aus den Augenwinkeln die junge Frau. Sie arbeitet nicht, wie von mir gezeigt, mit einer bestimmten Energie und Körpersprache, sondern hat unauffällig und schnell ein konditioniertes Sitzzeichen mit dem aufgestellten Zeigefinger gemacht. Der Deutsch-Kurzhaar folgt diesem Kommando sofort, und seine gesamte Körperhaltung und Mimik drücken aus, dass er nun zur Not auch vierzehn Stunden so ausharren würde.
Während die anderen Hundehalter sich weiter darin versuchen, den Raum um ihre zum Teil noch protestierenden Hunde zu beanspruchen und sich Führungskompetenz zu erarbeiten, steht Farina wie ein Wachposten neben Lord und genießt die bewundernden Blicke auf ihren stramm dasitzenden Hund.
Die Kursteilnehmer haben noch nicht die Erfahrung machen können, dass bereits jeder Protest ihrer Hunde, wie Bellen, Fiepen, In-die-Leine-beißen oder Immer-wieder-von-der-Stelle-weglaufen, eine wunderbare Chance ist, sich als Mensch neu zu beweisen. Ein Hund muss überprüfen, ob das Wesen, das er bisher führte, plötzlich selbst Führungskompetenz besitzt, oder weiter nur als Futter- und Liebesspender zu gebrauchen ist. Innerhalb von zwanzig Minuten ist bei allen Teams eine Veränderung zu erkennen, und die Hunde beginnen, sich von allein hinzusetzen, hinzulegen oder sogar einzuschlafen. An der Beziehung zwischen Farina und Lord dagegen hat sich nichts geändert. Der Deutsch-Kurzhaar sitzt wie eingefroren da, und seine gesamte Körperhaltung ist steif vor Anspannung. Er erinnert mich an einen General, der schon lange dient und nichts anderes kennt als diesen Dienst. Ein Gehorsamkeitsjunkie, dessen eigentliches Wesen verschwunden ist.
»Farina«, spreche ich die junge Frau an. »Es geht hier weder um Perfektion noch um Pflichterfüllung. Ich würde viel lieber erfahren, wer dein Hund ist und wie ihr eine gute Beziehung führen könnt.«
»Wir haben die beste Beziehung, die es gibt«, sagt sie betroffen, und Tränen schießen ihr in die Augen.
Ich ärgere mich über meine Unbedachtheit.
Während des Kurses denke ich darüber nach, wie ich dem offenbar sehr intimen Thema der jungen Frau gerecht werden kann, als sie mich am Ende des Kurses fragt, ob ich ihr eine Einzelstunde anbieten könnte. Erfreut sage ich zu.
Zwei Wochen später bitte ich sie, die Kursübung zu wiederholen und Lord ohne Kommando dazu zu bringen, sich zu entspannen. Für den »General« ist es besonders wichtig, einmal keine Aufgabe erfüllen zu müssen. Wir sind allein auf dem Gelände, und sie wirkt heute eine Nuance aufgeschlossener. Es ist, als ob an ihrer »Rüstung« das Visier hochgegangen wäre.
»Wenn ich ihm kein Kommando zum ›Sitz‹ gebe, läuft er sofort weg«, beteuert sie erregt und verschränkt abwehrend die Arme.
»Ich verspreche dir, ihn zu sichern. Wir könnten eine längere Leine an ihm befestigen, und ich halte das Ende fest«, schlage ich vor, um sie zu beruhigen. Sie legt ein mattes Lächeln über meinen Vorschlag und blickt mich weiter abwehrend an.
Weil es gerade das Gefühl von Kontrolle ist, das der Magersucht zugrunde liegt, ist es sehr schwer für einen betroffenen Menschen, diese aufzugeben. Oft ging der Krankheit eine lange Zeit der Ohnmacht voraus, in der sich der/die Betroffene nicht gegen die Übergriffe anderer schützen konnte. Die Magersucht kann eine machtvolle Entdeckung sein, mit der man dem Gefühl des Ausgeliefertseins entkommen kann. »Was ich nicht esse, bestimme nur ich!« Das existenzielle Bedürfnis nach Nahrung beherrschen zu können, während alle anderen in diesem Punkt »schwach sind«, weil sie essen müssen, erzeugt einen gewissen Stolz und verlangt ein hohes Maß an Selbstkontrolle. Diese Kontrolle ohne
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