Wie viel Mensch braucht ein Hund: Tierisch menschliche Geschichten (German Edition)
weitergeht.
»Unter anderem werdet ihr lernen, wie ihr in bestimmten Situationen euren Hund führt«, sage ich zur Eröffnung des Seminars. »Dazu gehört auch das Bewusstsein, dass ihr es seid, die diese Situationen gestaltet, und nicht mehr ein anderer.«
Eine halbe Stunde später kommt Silvia zur Gruppe zurück und macht bei den Übungen mit, als wäre nichts geschehen. Es ist deutlich zu spüren, dass auch die Frauen durch eine ganz besonders freundliche Umgangsweise mit ihr anerkennen, dass Silvia ihr Verhalten geändert hat. Farinas Blick ist anzumerken, dass sie die Welt nicht mehr versteht. Glaubte sie doch bisher daran, dass Fehler nie wiedergutzumachen sind.
Eine der folgenden Übungen besteht darin, sich als Paar gegenüberzustehen und auszuprobieren, welche Energie es braucht, das jeweilige Gegenüber in einer Handlung zu stoppen. Bevor die Frauen diese wirkungsvolle Energie finden, sollen sie zuerst einmal das tun, womit sie bei ihren Hunden sonst keinen Erfolg haben, etwa herumschreien, zögern, weil sie sich nicht trauen zu handeln, oder Ähnliches. Eine Partnerin darf sich eine Handlung aussuchen, die unterbrochen werden soll. Interessant ist, dass sich in dieser Rolle alle für ein kindliches Herumhüpfen entscheiden.
Ich bitte Farina, mit Silvia zu arbeiten, der sie vorhin so angstvoll hinterhersah. Ich möchte, dass sie hinter die Wut der Frau blicken und die Angst davor verlieren kann. Es ist spürbar, dass Farina Wut bereits als Druckmittel kennengelernt hat, dem sie sich beugen musste.
Zuerst spielt Farina den Hund und versucht, sich loszureißen, als Silvia sie festhält.
Silvia schreit daraufhin: »Hör auf, lass das!«, um Farina zur Ruhe zu bringen.
»Du darfst knurren, du bist jetzt ein Hund«, lade ich Farina lachend ein.
Sie wird rot und schüttelt den Kopf.
»Dann tu, was Lord macht, wenn du ihn anschreist«, ermutige ich sie weiter.
Farina stockt, dreht sich zu Silvia um, klemmt sich mit ihren dünnen Unterarmen schraubstockartig an deren Schulter und blickt sie ruhig und fest an. Tatsächlich ähnelt sie ihrem Hund in diesem Moment auf verblüffende Weise.
Silvia ist so überrascht von der entschlossenen Energie der jungen Frau, dass sie aufhört zu schreien und alles Laute von ihr abfällt.
»Was war das denn?«, fragt sie betroffen, als die junge Frau sie wieder loslässt.
»Das war eine souveräne, ruhige Energie. Ich würde sie gern für alle hier abfüllen«, antworte ich lachend.
Am Abend kochen wir zusammen. Ich erwarte im Zusammenhang mit dem Essen Schwierigkeiten mit Farina und bin überrascht, auch bei anderen Frauen diesbezüglich Störungen wahrzunehmen.
»Das hat ganz wenig Fett und nur wenig Kalorien«, betont eine schlanke Frau immer wieder bei der Zusammenstellung der Gemüsepfanne.
»Es ist ja auch nur heute, wo wir alle zusammen sind. Da kann man ruhig feiern und am Abend auch mal zuschlagen«, sagt eine andere normalgewichtige Frau, während sie den Nachtisch zubereitet. Eine Frau mit fülliger Figur geht aus der Küche, als das Thema immer wieder angeschnitten wird. Allein Farina schneidet unerschütterlich das Gemüse. Ich kenne dieses Phänomen jedoch von anderen Magersüchtigen, die sehr gern kochen und Nahrung zubereiten: für andere.
Beim Essen selbst nimmt Farina erwartungsgemäß nicht mehr als drei Gabeln von der Gemüsepfanne, an denen sie dann jeweils in Zeitlupe kaut.
Am nächsten Morgen gehe ich mit meinen Hunden über das Feld hinter dem Hof und entdecke Farina in der Ferne. Sie steht mit dem Rücken zu uns und bemerkt uns nicht. In ihrer Hand hält sie eine Schleppleine von vielleicht zehn Metern, die an Lord befestigt ist. Lord schnüffelt interessiert in dem riesigen Feldmäuseparadies um sich herum. Farina betrachtet den Hund lange und lässt plötzlich die Leine los. Ein Ruck fährt durch sie hindurch, als Lord einen Schritt zur Seite geht. Ihre Arme fliegen nach vorn und fallen, als Lord stehen bleibt, wieder herab. Sie geht wenige Meter von ihm weg und ruft: »Lord.« Der Hund hebt augenblicklich den Kopf und springt freudig zu ihr. Man sieht Farina auch aus der Entfernung die Erleichterung darüber an, dass sich Lord trotz all der Mäuse für sie entschieden hat. Dennoch bückt sie sich und nimmt die Leine wieder in die Hand. Dieses Wagnis nach zwei Jahren der absoluten Kontrolle hat sie wohl allen Mut gekostet.
Bei der gemeinsamen Frühstückszubereitung kommt mir ein unerwartetes Ereignis therapeutisch zu Hilfe. Wir haben
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