Wie weit du auch gehst ... (German Edition)
abgebrochen. Geld zum Leben gab es nicht, geschweige denn ein festes Dach über dem Kopf – nur eine siebenjährige Tochter, die nach jenem Vorfall plötzlich allein dastand. Weil die Behörden weder ermitteln konnten, wer ihr Vater war, noch sonst irgendwelche Angaben zu Angehörigen fanden, hatten sie Constanze kurzerhand in ein Waisenhaus gesteckt. Die ersten Jahre dort waren die übelsten ihres Lebens gewesen – von ihrer Ehe mit Michael einmal abgesehen.
»Wie hast du es geschafft, das alles wieder abzunehmen?«, brachte Beate sich in Erinnerung.
Constanze atmete tief durch. »Ich habe irgendwann begriffen, dass es nichts ändert, wenn man alles in sich hineinstopft.«
»Klingt nach einer schlimmen Kindheit«, bemerkte Beate, drang aber einfühlsam nicht weiter vor.
»Die Kindheit kann man sich nicht aussuchen.« Constanze strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich mach mich dann mal auf den Weg. Ich denke, in einer Stunde müsste ich zurück sein.«
»Lass dir Zeit.«
Constanze hängte sich die Handtasche über die Schulter und trat in die trockene Mittagshitze. Tief atmend hob sie Gesicht der Sonne entgegen und ließ sich von den warmen Strahlen die böse Erinnerung vertreiben, dann machte sie sich auf den Weg.
Wie immer war der Markt gut besucht. Constanze schritt durch die Reihen, kaufte frisches Obst und bewunderte die bunten Blumenstände. Als sie gerade mit einer Packung Eier an der Kasse stand, stach jemand einen Finger in ihre Schulter. Erschrocken drehte sie sich um.
»Hallo, das ist ja ein Zufall.« Rolands braune Augen leuchteten erfreut.
»Hallo.« Sie hatte Mühe, nicht vor lauter Frust die Eier zu zerquetschen. Wieso hatte er nicht drei Minuten später an diesem Stand vorbeikommen können?
»Ich wollte dich heute Abend eigentlich anrufen«, erklärte er.
Da wäre sie wenigstens nicht zu Hause gewesen.
»Aber so ist es natürlich viel besser«, redete Roland weiter. »Hast du Zeit auf einen Kaffee?«
»Ich bin schon spät dran,« log sie und wurde auch noch rot.
»Schade. Habe ich dir schon erzählt, auf was ich letzte Woche gestoßen bin?« Er ignorierte ihren Einwand und begann sogleich, von seiner neuesten Reportage zu schwadronieren.
Unmut ballte sich in Constanzes Magen. Jetzt ließ sie sich schon wieder von ihm in Beschlag nehmen. Eigentlich war sie selbst schuld nach der fadenscheinigen Ausrede, die sie hervorgestammelt hatte. Sie benahm sich wie ein staatlich geprüfter Hasenfuß. Dies war die denkbar günstigste Gelegenheit, Roland endlich in die Schranken zu weisen. Eine größere Menschenmenge als Rückendeckung konnte man sich wahrlich kaum wünschen … Aber was tat sie? Passiv dastehen und lächeln – wie früher. Constanze schluckte und begann im Stillen zu zählen. Drei, zwei, eins und – nichts. In ihrem Kopf herrschte absolute Leere.
»Ich finde, diese Entscheidung des Gemeinderats ist untragbar, du nicht auch?«, fragte Roland und Constanze nickte abwesend, obwohl sie nicht den leisesten Dunst hatte, wovon er überhaupt sprach. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte sie einen neuen Anlauf. Sie holte Luft und … und … packte es wieder nicht. Schützende Menschenmenge in allen Ehren, aber es half kein Stück. Selbst wenn die versammelte europäische Nation über den Markt flaniert wäre, hätte es nichts daran geändert, dass sie sich plötzlich wie ein in die Enge getriebenes Tier fühlte.
Aus purer Verzweiflung tastete sie nach ihrem Handy. Vielleicht konnte sie ja einen Anruf vortäuschen. Das war zwar auch nicht gerade heldenhaft, aber immerhin eine praktikable Lösung. Wo hatte sie das blöde Ding nur hingetan? Schlagartig fiel ihr ein, dass sie es auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen. Auch das noch. Der Himmel stehe ihr bei.
Roland erzählte einige Minuten lang belanglosen Klatsch, dann kam, was unweigerlich kommen musste. »Was ich dich noch fragen wollte …« Er trat einen Schritt näher. »Wann soll ich dich denn nächsten Samstag abholen?«
»Bitte?« Constanze wich unverzüglich zurück und konnte ihn nur sprachlos anblinzeln. Das klang gerade so, als hätte sie ihm für den Ball bereits zugesagt. Ärger keimte in ihr auf. Vor allem auf Roland, aber auch auf sich selbst, weil sie es immer noch nicht zustande gebracht hatte, einen verbalen Schlussstrich unter das Ganze zu ziehen.
Roland überging ihren Einwurf großzügig. »Ich denke, so gegen halb acht wäre eine gute Zeit. Hast du schon ein Kindermädchen? Du hattest doch
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