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Wie wollen wir leben

Wie wollen wir leben

Titel: Wie wollen wir leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Maischenberger
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rechtzeitig, also auch schon in der Schule, mit der Frage nach der Begründung dieser Werte konfrontiert werden. Und das nicht nur im Religions- oder im Ethikunterricht.
    Das Grundgesetz lässt bei alldem immer noch einen hinreichenden Spielraum für die Auslegung seiner Wertordnung – etwa im Bereich der Grundrechte. Aber dafür haben wir eine hervorragende Institution, nämlich unser Bundesverfassungsgericht. In vielen Fällen hat es der Wertordnung insgesamt und speziell den Grundwerten des Grundgesetzes zur Geltung verholfen. Das auch dadurch, dass es sie auf ganz neue Entwicklungen angewandt hat.
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    Ich fasse kurz zusammen: Wichtig sind für das eigene Wertegebäude das Grundgesetz, die Bibel und Kant?

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    Ja. Auch Kants Lehre vom kategorischen Imperativ.
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    Angela Merkel, so vermute ich mal, würde Ihnen bei allen drei Elementen zustimmen. Und trotzdem scheint sie ein Wertefundament zu haben, das in gewisser Weise anpassungsfähiger ist. Wie erklären Sie sich das? Weil ein Begriff wie die Würde des Menschen im 21. Jahrhundert viel zu abstrakt und zu archaisch klingt? Weil man nicht mehr konkret definieren kann, was man darunter versteht?
    Â 
    Mir fällt es nicht schwer, die Würde des Menschen zu definieren. Ich verstehe darunter, dass der Mensch nie als Mittel missbraucht werden darf, dass jeder Einzelne einen Wert, aber niemals einen Preis hat. Und dass in jedem Menschen ein göttlicher Funke steckt. Mir haben die Entwicklungen in Nordafrika gezeigt, dass die Menschenwürde kein archaischer oder gar überholter Begriff ist. Da haben nämlich Menschen aufbegehrt und sich von Diktatoren nicht länger als Arbeits- oder Machtkapital behandeln lassen wollen. Sie sind aufgestanden, um für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Und sie haben sich jedenfalls ein Stück weit durchgesetzt.
    Zum Wertefundament von Frau Merkel will ich mich nicht äußern. Dafür kenne ich sie zu wenig. Ziemlich volatil erschien allerdings in jüngster Zeit ihre Politik.
    Â 
    Christliche Nächstenliebe – die Menschen gehen immer seltener in Kirchen, sie beteiligen sich immer seltener an den Strukturen, die früher das Wertegerüst einer Gesellschaft aufrecht gehalten haben. Wie soll man dem begegnen? Mit einer gewissen Nonchalance? Indem man hofft, dass die Rückbesinnung schon von allein kommt?
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    Dass mehr Menschen in jüngster Zeit die Kirchen verlassen haben, hat auch mit deren eigenen Schwächen zu tun. In der katholischen Kirche spielen dabei die Missbrauchsfälle und die Art und Weise, wie sie damit und mit anderen Fragen, die die Gläubigen zunehmend beschäftigen, lange Zeit umgegangen ist, eine große Rolle. Als Stichworte nenne ich nur den Zölibat, die Frauenordination und den Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen. Aber es spielt auch eine Rolle, dass die Zugehörigkeit zur Kirche früher für viele Menschen einfach eine Frage des Milieus war. Und manche
Milieus haben den Gedanken an einen Kirchenaustritt erst gar nicht aufkommen lassen. Diese Milieus haben sich im Zuge der Individualisierung weitgehend aufgelöst. Soweit Individualisierung Selbstverantwortung bedeutet, kann ich das nicht bedauern.
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    Aber immerhin führte es dazu, dass man sich jeden Sonntag einen »Vortrag« anhörte – meinetwegen auch zwangsweise – und damit die Möglichkeit gegeben war, innezuhalten, selbst für die Unvernünftigen und Ungläubigen. Das gibt es nicht mehr.
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    Das nimmt ab. Aber immer noch sind es rund vier Millionen Katholiken, die den Sonntagsgottesdienst, und rund neun Millionen evangelische Kirchenmitglieder, die jedenfalls die Christvespern und Metten am Heiligen Abend besuchen. Aber auch die, die das nicht tun, haben wohl in ihrer Mehrheit noch gewisse christliche Grundvorstellungen. Sogar diejenigen, die aus der Kirche austreten, besitzen in nicht wenigen Fällen religiöse Bezugspunkte.
    Â 
    Vielleicht treten sie aus, weil sie Kirchensteuer zahlen müssen. Sollte man die abschaffen?
    Â 
    Das mag durchaus so sein. Dennoch bin ich gegen die Abschaffung der Kirchensteuer, weil ihr Wegfall allein schon im sozial-karitativen Bereich fühlbare negative Auswirkungen hätte. Außerdem setzt ihre Zahlung ja eine entsprechende individuelle Entscheidung voraus. Aber Ihre Frage zielte darauf ab, was man tun kann, um wieder stärker ein moralisches Gerüst zu

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