Wie wollen wir leben
über die man reden muss â und die Sozialdemokratie hat in der Frage der Leiharbeit aus ihren Erfahrungen gelernt. Oder?
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Doch, doch! Aber leider spät â sie regieren nicht mehr.
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Ja, leider.
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Mein Ausgangspunkt war ja der, dass die groÃen Parteien es ihren Anhängern schwergemacht haben, sie anhand ihrer Grundpositionen zu unterscheiden â¦
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Ich bin mit dem vorherigen Thema noch nicht ganz fertig. Das ALG 2, also jener Teil der Agenda, über den am lebhaftesten diskutiert wurde und auch heute noch wird, hat durchaus positive Auswirkungen gehabt. Die Arbeitslosenzahlen sind dadurch gesenkt worden. Und die dorthin übernommenen vormaligen Sozialhilfeempfänger stehen besser da als vorher.
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Bevor ich die Kritiker dieser Arbeitslosenzahlen zitiere, komme ich aber auf den Punkt der Wiedererkennbarkeit zurück. Sie haben moniert, dass die beiden groÃen Parteien für ihre Wähler unterscheidbar sein müssen. Ihr Einwand war, dass die Union sozialdemokratisch geworden ist, und ich fügte an, dass sich vorher die Sozialdemokraten den Unionspositionen genähert haben. Also ist das eine wechselseitige Bewegung?
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Das kann ich nicht einfach zurückweisen, da ist sicher einiges dran. Meiner Partei habe ich immer wieder gesagt: »Ihr müsst den Grundwert der sozialen Gerechtigkeit als Orientierung nicht nur im Grundsatzprogramm, sondern bei eurer täglichen Arbeit im Auge behalten.« Nur â es müssen Ankündigungen und Absichten sein, die realisierbar sind. Man kann unter dem Stichwort »soziale Gerechtigkeit« auch Dinge ankündigen, die irreal sind. Und das ist dann wieder ein Verstoà gegen die Glaubwürdigkeit.
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Ich verstehe, dass Sie damit auf die Linken zielen.
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Ja.
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Noch einmal zum Thema Volkspartei. Hat sich eine solche nicht immer dadurch ausgezeichnet, dass es innerhalb der Partei widerstreitende Interessen gab?
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Ja. Aber immer im Rahmen des Grundsatzprogramms.
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Können Sie mir erklären, aus welchen Gründen Sie als Christ, als jemand, der die christlichen Werte sehr hervorhebt, sich damals nicht für die christlich-demokratische, sondern für die sozialdemokratische Partei entschieden haben?
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Dieser Entschluss reifte bei mir zwischen 1946 und 1950. Nachdem ich mich nach dem Krieg zunächst um mich selbst gekümmert hatte, um Essen, Wohnen, Kleidung und um das Studium,
sah ich, in welchem Zustand sich unser Gemeinwesen befand. Zusammen mit anderen meiner damaligen Studienkollegen sagte ich: »Wir müssen für das Gemeinwesen etwas tun, damit wir wieder auf die Beine kommen.« Das meinten wir nicht nur materiell. Ich fügte hinzu, dass das auch bedeuten würde, sich für demokratische Strukturen zu engagieren und sich einer Partei anzuschlieÃen. Pedant, der ich bin, besuchte ich daraufhin die Versammlungen der verschiedenen Parteien. An der Universität Marburg, an der ich studierte, gab es ebenso Gastvorträge von Parteivertretern. Einer der Vortragenden hinterlieà bei mir als Person einen bleibenden Eindruck. Leo Bauer hieà der, er war Fraktionsvorsitzender der KPD im hessischen Landtag. Später, 1949, wechselte er in die DDR, wurde aber drei Jahre darauf in einem Schauprozess durch ein sowjetisches Militärgericht als »US-Spion« zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde jedoch nicht vollstreckt, er kam stattdessen nach Sibirien; 1955 entlieà man ihn aus dem Lager. Man schob ihn nach Westdeutschland ab, wo er der SPD beitrat. Bauer arbeitete dann auch als Berater von Willy Brandt. Dieser Mann hat mir damals imponiert.
Von allen Parteien habe ich mir die Grundsatzpapiere genauer angesehen. Am Ende kam ich zu folgender Erkenntnis: Die Partei, die dir hundertprozentig entspricht, die besteht nur aus dir selbst. Das macht aber keinen Sinn. In der Folge entwickelte ich eine zunehmende Sympathie für die Sozialdemokratie. Wegen ihres Eintretens für soziale Gerechtigkeit, wegen ihrer Geschichte, wegen ihres Verhaltens vor 1933, insbesondere wegen des Neins von Otto Wels und seiner Fraktion zum Ermächtigungsgesetz im März 1933. Als ich als Referendar am Amtsgericht in Miesbach tätig war, gab es im Mai 1949 einen Parteitag der SPD in Rosenheim und eine Kundgebung mit Kurt Schumacher. Mit dem Parteitag hatte ich nichts zu tun, ich war noch nicht Mitglied. Aber ich wollte mir Schumacher anhören. Also fuhr ich mit dem
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