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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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für sie so wichtig ist
– allein wegen der Nummer –, doch sie hält den Mund,
da er auf ihre Erklärungen ohnehin keinen Wert legt. Er hat auch
nie nach dem Grund gefragt, dass sie ihn damals verlassen hat. Sie
könnte sich rechtfertigen: Janko wollte es so.Aber das wäre
nur die halbe Wahrheit, und es entschuldigt gar nichts. In
Wirklichkeit hat sie gekniffen. Irgendwann wird sie ihn um Verzeihung
bitten. Für alles, auch diesen beschissenen Abend. Sobald sie
die richtigen Worte parat hat.
    In der Nacht hat Liv einen dieser Alpträume, welche
mittendrin ein Erwachen vortäuschen: Sie ist wieder am Fluss und
rennt, ohne zu begreifen, ob sie Jägerin oder Gejagte ist, dann
das falsche Erwachen, Erleichterung, sie geht in die Küche, um
etwas zu trinken, doch sie kommt nicht an den Kühlschrank, denn
auf einmal ist überall Sand, bergeweise, er rieselt auf sie
herab, droht, sie lebendig zu begraben. Als sie sich freikämpfen
will, merkt sie, dass es kein Sand ist, sondern Schnee. Schnee, der
fällt wie Sand. Liv ist barfuß und im Sommerkleid, in der
Hand das Messer ihres Großvaters.
    Sie stößt einen kurzen Schrei aus – und liegt nun
wirklich wach in ihrem Bett, begraben unter schweren Daunen, die
Decke bis an die Stirn über das Gesicht gezogen. Die Atemnot ist
Realität. Sie muss unbedingt die Winterdecke gegen eine
leichtere eintauschen.
    Liv schaltet das Licht ein und entdeckt Blütenblätter
auf dem Parkett. Kirschblütenblätter, weiß wie frisch
gefallener Schnee. Sie schläft bei offenem Fenster. Draußen
hat der Wind aufgefrischt, die Gardine wölbt sich. Liv kann die
Ostsee riechen und Blütenduft. Gibt es überhaupt
Kirschbäume im Hof? Sie hat nie darauf geachtet. Eine
unangenehme Ahnung von Kontrollverlust beschleicht sie und lässt
sie nicht mehr schlafen bis zum Tagesanbruch.
    Morgens gelber Himmel. Gewitterluft. Liv ist kein Mensch, der sich
lange mit Alpträumen auseinandersetzt, sie träumt insgesamt
selten, jedoch diesen kann sie nicht abschütteln, ebenso wenig
wie die Ereignisse vom Vorabend. Sie hatte erwartet, Muskelkater zu
bekommen, aber sie hat bloß Kopfschmerzen, und sie spürt
ihren Nacken. Obschon es keinen Sinn ergibt, wird sie das Gefühl
nicht los, die Konfrontation mit dem Handydieb und das Verschwinden
ihres Großvaters hätten etwas miteinander zu tun. Sie
weiß, dass Ruinen zwielichtige Typen jeglicher Art anziehen,
Junkies, Jugendbanden, Schrottsammler auf der Suche nach verwertbaren
Metallresten. Deshalb die Zäune. Es muss Zufall gewesen sein.
Sie ist nur zu müde, klar zu denken.
    Draußen wird es finster, eine Wolkenwand treibt einen
dichten Regenschleier vor sich her. Liv muss das Licht einschalten.
Als das Unwetter über der Stadt niedergeht, stellt sie sich ans
Fenster, beobachtet Blitze und zählt die Sekunden bis zum
Krachen des Donners.Anschließend kocht sie Kaffee und ruft auf
der Arbeit an, um ihre Termine für den Tag absagen zu lassen.
Sie beabsichtigt, ein weiteres Mal alle Mitglieder der Familie Engel
über Tönges zu befragen und sich dabei besonders auf die
Beziehung zu seiner Schwester Inga zu konzentrieren. Die vage
Möglichkeit, er könnte sich auf die Suche nach ihr begeben
haben, wie er es Jahrzehnte zuvor schon einmal getan hat, erscheint
ihr zwar weit hergeholt, aber es ist ihr einziger Ansatzpunkt, um
sein Verschwinden zu erklären.
    Sie hat gerade die Nummer ihrer Großmutter gewählt, da
klingelt es energisch an der Tür, und als Liv unbedacht öffnet,
steht nicht, wie erwartet,Aaron vor ihr, der ständig seinen
Schlüssel vergisst, sondern Henny. Mit einem triefnassen Schirm
in der Hand und einer DIN-A3-Mappe aus schwarzer Pappe unter dem Arm.
Liv wird sich bewusst, dass sie immer noch ihr Nachtzeug trägt,
ein verwaschenes T-Shirt und einen reichlich aus der Form geratenen
Hüftslip.
    Â»Oh, du bist das. Hallo. Was hast du denn da?«
    Henny mustert sie mit einem dezent anklagenden Stirnrunzeln, wie
nur Mütter und Großmütter es zustande bringen.
»Dürfte ich zuerst einmal hereinkommen?«
    Â»Klar doch. Bitte.« Liv tritt zur Seite.
    Â»Bist du krank?«
    Â»Nein.«
    Die Großmutter sucht vergebens nach einem Schirmständer,
drückt den tropfenden Knirps schließlich der Enkelin in
die Hand. Liv hilft ihr beim Ablegen,tauscht das Schlafzeug gegen
Jeans und Pulli, kämmt ihr

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