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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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Beleidigung – von
wem auch immer. Nachdem der Weg vom ersten Stock ins Erdgeschoss
bewältigt war, es ihr sogar noch gelang, Lebensmittel aus der
Vorratskammer hervorzuholen, hat sie fest geglaubt, nun würde es
wieder besser werden mit ihr.Aber mitnichten. Ihr Kreislauf spielt
verrückt, die Hüfte ist steifer denn je, und sie sitzt am
Tisch wie festgenagelt.
    Fritzi überlegt. Hat der Nachbar nicht vorhin etwas von Milch
gesagt? Doch, ganz sicher: Milch von den eigenen Kühen steht vor
der Haustür. Gütiger Himmel: Milch! Der weiße Schaum
auf der Oberfläche eines frisch gemolkenen Glases, das cremige
Gefühl auf der Zunge, der Geschmack nach Reinheit und Leben
schlechthin. Für einen winzigen Schluck würde Fritzi töten,
und zwar jeden, egal, ob Freund oder Feind. Mit der Zungenspitze
betastet sie ihre Lippen, trockene und rissige Wölbungen in
einem Gesicht, dessen Haut so wenig Feuchtigkeit gespeichert hat wie
die erodierten Böden der Hochlandwüsten. Daher das Jucken.
Eigentlich ist es mehr ein Brennen. Sie könnte sich regelrecht
blutig kratzen, hätte sie die Kraft dazu. Fritzi weiß, sie
braucht die Milch, nur diese Köstlichkeit wird sie retten. Viel
eher jedenfalls als kalte Erbsensuppe und altes Brot.
    Der erste Versuch aufzustehen misslingt, ihr wird sogleich
schummrig. Jetzt bloß nicht wieder das Bewusstsein verlieren.
Die Küche dreht sich im Kreis, und Fritzi bleibt nichts anderes
übrig, als abzuwarten, bis es aufhört. Diese Hilflosigkeit.
Sie schreit dagegen an, ein kläglicher Schrei, aber wenigstens
bringt er sie auf eine Idee: Gesang wäre gut. Singen richtet die
Wirbelsäule auf, verbessert die Atmung und die Gemütslage.Also
los. Das erste Lied, das sie sich ins Gedächtnis rufen kann, ist
»Stille Nacht«, eine Melodie aus der Kindheit, vergessen
all die Choräle aus ihrer Zeit im Kirchenchor. Es klingt
schauerlich, erfüllt aber seinen Zweck. Das Drehen lässt
nach, zuletzt wanken lediglich die Wände noch ein wenig. Das ist
auszuhalten. Fritzis Hände klammern sich an der Tischplatte
fest. Sie wagt es – und steht.
    Vom Tisch zum Fenster, von dort an der Wand entlang zur Diele.
»Holder Knabe mit lockigem Haar – schlaf in himmlischer
Ruh.«
    Geschafft. Fritzi öffnet die Haustür und ein Schwall
salziger Seeluft schlägt ihr entgegen. Ein riesiger Vollmond
über dem Meer, davor Wolkenfetzen in schneller Flucht.
    Ohne nachzudenken, singt sie weiter, plötzlich gewinnt ihr
Gesang an Klang und Tiefe. Fritzi stutzt. Der Geruch nach Leder. Das
ist nicht ihre Stimme, der Braune steht im Schatten neben dem Stall
und begleitet sie. In der Hand schwenkt er eine Milchkanne.
    Â»Sing nur«, ruft er. »Ich habe auch gesungen,
genützt hat es mir allerdings nichts, wie du weißt.«
    Fritzi hält sich am Türrahmen fest. Dassder Móri
spricht, ist äußerst selten. Sie antwortet nie.
    Â»Durst?«, fragt er. »Lass uns geschwisterlich
teilen, erst trinke ich, dann du.«
    Woher kennt sie diesen Duktus?
    Der Braune setzt die Kanne an. Sein widerwärtiges Schlucken.
Fritzi kann die Gesichtszüge des Wiedergängers nicht sehen,
wohl aber die Milch, die er verschüttet. Sie läuft über
sein Kinn und den Mantel hinab, bis er in einer weiß glänzenden
Lache steht. Wie hässlich er sein muss, deshalb verhüllt er
sich, eine Missgeburt, abgrundtief böse.Als er fertig ist, dreht
er den Behälter um, verschüttet die letzten Tropfen.
    Â»Oh, so ein Pech. Da musst du wohl die Kühe melken.«
    Fritzi spürt, wie eine erneute Ohnmacht nach ihr greift, und
diesmal leistet sie keinen Widerstand. Doch die Ruhe ist nicht von
Dauer. Sie erwacht bald darauf, weil ein Flüstern sie verstört:
»Der Mond gleitet, der Tod reitet.«
    Die Uhr tickt wieder. Liv hört die Zeit verstreichen,
überlaut, jeden einzelnen Sekundenschlag. Sie blinzelt. Die
Armbanduhr auf dem Nachttisch aus Birkenholz, eine dünne
Staubschicht. Der Mann in ihrem Hotelbett, zerzaustes schwarzes Haar.
Seine Stirn mit der steilen Zornesfalte zwischen den Brauen sieht
aus, als könnte der Organist damit Betonwände einrennen
ohne die kleinste Verletzung. Ein Schädel aus Stahl.
    Lebhafter als die Eindrücke des neuen Tages sind die der
vergangenen Stunden: Nähe und Licht, silberner
Mitternachtssonnenschein auf fremder Haut, vertraut wie die eigene.
Diese

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