Wiedergaenger
enthält
Schwefelwasserstoff, daher der Geruch. Man gewöhnt sich dran.
Die Geothermalenergie heizt auch unsere Häuser und sogar die
Bürgersteige im Winter, und das alles umweltschonend für
kleines Geld. Genial, oder?«
Da ist er wieder, dieser freundliche Patriotismus, den sie schon
im Flugzeug bei Geir beobachtet hat. Liv räkelt sich unter
seinem Lächeln und betrachtet Rúnar in Ruhe, die etwas zu
spitze Nase, die leicht nach innen gedrehten Knie. Ansonsten ist er
perfekt.
»Ist Schwefelwasserstoff nicht giftig?«, fragt sie.
»Es ist doch ein Fäulnisgas.«
Da er das Wasser nicht abgestellt hat, breitet sich der Gestank
mittlerweile im gesamten Hotelzimmer aus.
»Nicht in dieser geringen Konzentration. Ich dusche täglich.
Und hast du den Eindruck, ich wäre todgeweiht?«
»Sind wir das nicht alle?«
»Jedenfalls wird es nicht der Schwefel sein, der mir den
Rest gibt.«
»Das kannst du nie wissen.«
Sie landen schließlich zu zweit unter der Dusche, danach
schlafen sie erneut miteinander, was aus ihrer Zweisamkeit eine
Affäre macht, eine Geschichte mit einem Anfang und einem noch
offenen Ende. Der bindungsunwillige Teil von ihr registriert dies mit
routinierter Wehmut. Von nun an wird man sich jedes Mal anders
begegnen, Terrain abstecken, Erwartungen definieren, zumindest
insgeheim, Vergleiche werden sich aufdrängen: die zweite Nacht
mit der ersten, die Intensität der frühen Begegnungen mit
denen, die folgen. Trotzdem hüpft ihr Herz vor Lust und Freude.
Eine fixe Idee: Sie könnten füreinander bestimmt sein.
Heimat oder Gelobtes Land? Oder alles Schwachsinn?
Später beim gemeinsamen Frühstück im Speiseraum des
Hotels fragt er nach dem Grund ihrer Reise, und als Liv antwortet,
sie suche ihren vermissten Großvater und dessen Schwester,
zeigt sich Rúnar tief betroffen und bietet sofort seine Hilfe
an. Ihr erster Gedanke: Gut – wir werden uns also oft sehen.
Gleich darauf schämt sie sich dafür. Die Begegnung mit
Rúnar darf sie unter keinen Umständen von der Suche nach
Tönges ablenken. Sie riecht an ihrem Handrücken: ein Hauch
von Schwefel.
Â
Milch
Immerhin schneit es nicht. Vier Worte, fünfundzwanzig
Zeichen, die Liv vor der Kälte abschirmen, während sie sich
durch die beißende Islandbrise kämpft, die Hände in
den Taschen des Parkas vergraben, die Augen hinter der Sonnenbrille
zu Schlitzen zusammengekniffen. Der Segensspruch des Tages stammt von
Aaron, übermittelt per SMS als ebenso prompte wie lakonische
Antwort auf ihren ausführlichen Wetterbericht. Unglaublich: Sie
ist im Ausland und kommuniziert auf eigene Initiative mit ihrem
halbwüchsigen Sohn – und es gefällt ihr sogar.
Geradezu beschwingt betritt sie die nächste Boutique, um ihm ein
Geschenk zu kaufen. Ein minimalistisch eingerichteter Laden, ruhige
elektronische Musik, blasswangiges, noch ruhigeres Personal. Sie
entscheidet sich für eine Fließkapuzenjacke in
Schwarz-Anthrazit mit orangefarbenen Kordeln, zum einen, weil ihr in
der Stadt schon etliche Jugendliche mit Kleidern dieser Marke
begegnet sind, zum anderen, weil das prächtig überteuerte
Stück Stoff »Ulfur« heißt, was Wolf bedeutet,
wie die Verkäuferin ihr erklärt. Sie denkt, sie hofft, das
könnte Aaron gefallen.
Als sie wieder hinaus ins Freie tritt, treibt der Wind ihr zarte,
eiskalte Daunen ins Gesicht: Schnee. Ungläubig legt sie den Kopf
in den Nacken und lässt sich berieseln. Eben hat noch die Sonne
geschienen.
Der Himmel über Liv ist zweigeteilt: Das helle Blau wird nach
und nach von einer Wolkenfront verdrängt, eine dickflüssige
Erscheinung, schwarz wie Pech, zäh wie gerinnendes Blut.Viel
Blut. Eine Blutlache auf Asphalt, kein Zweifel, Liv erkennt den
Umriss wieder, und eine längst vergessen geglaubte Erinnerung
packt sie wie ein Alptraum mitten am Tag: Sie ist elf, und sie hat
einen ziemlich großen Hund, einen Afghanen-Mix, den sie wegen
seines vornehmen Gehabessiezt, Herr Konradi. Die distanzierte Anrede
täuscht jedoch, es ist ein sehr inniges Verhältnis, von
Harmonie geprägt.Außer an diesem Nachmittag, da haben sie
Streit, und zwar um einen roten Turnschuh, Markenware, brandneu. Sie
verlieren beide die Kontrolle über sich, Herr Konradi zuerst. Er
beißt Liv in die Hand, nicht allzu schlimm, aber es schmerzt
doch, worauf sie ihn mit einem Tritt in den
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