Wiedergaenger
will, ist das mein gutes
Recht. Was so ein dahergelaufener Wanderer kann, kann ich schon
lange.«
Kopfschütteln. »Du solltest dich schämen, Fritzi.«
Nach einer Pause fährt Bjarney fort. »Ist gut, du hast
gewonnen: Ich werde den Arzt nicht anrufen. Aber denk bloß
nicht, ich hätte es mit der Angst bekommen. Ich hätte nicht
übel Lust, dich hier deinem Schicksal zu überlassen, aber
das werde ich ebenfalls nicht tun, der Anstand verbietet es mir –
falls du noch eine Vorstellung davon hast, was das ist. Ich sage dir,
was ich tun werde, großherzig, wie ich bin: Ich schicke dir
eine Elfe.«
Rúnars Flughafenkontakte erweisen sich als wertlos. Dass er
die deutschen Frauen aus seinen Anfangsjahren als Organist kennt, ist
hingegen ein Glücksfall. Bereits am nächsten Tag verfügen
sie über zwei Einladungen auf Höfe in Südisland, etwa
drei Autostunden von ReykjavÃk entfernt. Da die betagten
Gastgeberinnen, seit sechzig Jahren fern der Heimat, ihre
Muttersprache nach eigenem Bekunden nicht mehr fließend
beherrschen und sich im Englischen überhaupt nicht
zurechtfinden, ist sie froh, Rúnar als Übersetzer an
ihrer Seite zu haben, falls die Gespräche ins Stocken geraten
sollten. Besser hätte Liv es nicht treffen können. Befreit
von allen Zweifeln, hat sie plötzlich keinerlei Schwierigkeiten,
von einem Unbekannten Hilfe anzunehmen, ihm in dieser
Familienangelegenheit vorbehaltlos zu vertrauen, im Gegenteil. Es
fühlt sich gut und richtig an. Wieder verbringen sie die Nacht
zusammen, eine Selbstverständlichkeit. Nur auf den Kneipenbesuch
verzichten sie diesmal.
Früh am Morgen verlassen sie die Stadt in Richtung Südosten,
hungrig, aber zu ungeduldig, um im Hotel zu frühstücken.
Ein grauer Tag. Tiefhängende Wolken, hier und da
zusammengeschmolzene Reste von Schnee, wie Schimmelpilzbefall. Als
die Vororte hinter ihnen liegen, wird es neblig. Eine riesige
digitale Anzeigentafel am Straßenrand verkündet den
Autofahrern Windgeschwindigkeiten sowie die aktuelle Temperatur: zwei
Grad plus. Liv hat angesichts des bedeckten Himmels auf die
Sonnenbrille verzichtet. Sie kommt sich direkt entblößt
vor.
Sie reden wenig. Nicht nur, weil das Wetter auf die Stimmung
drückt. Seit dem Erlebnis vom Vortag kleben Livs Gedanken an der
Vergangenheit fest. Sie hatte ja keine Ahnung, wie tief die Sache mit
dem Hund sie heute noch aufwühlt. Damals war es ein Schock,
sicher, aber was geht sie das heute an? Es verstört regelrecht.
Überhaupt ist nicht viel übrig von der lässigen
Person, als die sie gern wahrgenommen werden möchte. Es ist
nicht länger zu leugnen, sie befindet sich bestenfalls in einer
Verwandlungsphase – schlimmstenfalls in einem Prozess der
Auflösung. Aarons Einzug, die Scheidungspläne der
Großeltern, Tönges' Verschwinden, Max' Wunsch, mit ihr
eine Familie zu gründen, und erst recht ihre unerhört
empfindsame Reaktion auf all diese Dinge zeigen ihr, dass ihre Welt
ins Wanken geraten ist. Wer, zum Teufel, ist sie eigentlich? Ein
bislang erfolgreicher Lebensentwurf verliert auf einmal seine
Glaubwürdigkeit.
Stabilisierungsversuche. Herr Konradis Tod auf der Straße
hat sie zweierlei gelehrt. Erstens: Ihre Wut macht nicht halt vor
denen, die sie liebt, sie ist in bestimmten Situationen in der Lage,
jedem Lebewesen großen Schaden zuzufügen. Zweitens: Sie
ist miserabel in der Bewältigung von Trauer,denn das Ende ihres
Hundes hätte beinahe ihr eigenes bedeutet.
In jenem Sommer wird sie kurz vor der Pubertät mehr oder
weniger zur Einzelgängerin, was nicht in derart vor sich geht,
dass sie einen entsprechenden Beschluss fasst und verkündet,
also einen glatten Schnitt macht und infolgedessen Freundschaften und
andere Bindungen aufkündigt, es ist mehr eine Abnabelung, ein
schleichender Erkenntnisprozess: Sie ist gern für sich. Lieben
bedeutet Schmerz. Ihre Frustrationsgrenze ist überaus niedrig,
eine Schmerztoleranz so gut wie nicht vorhanden. Ist sie feige?
Kneift sie vor dem Leben?
Unsinn, denn dann müsste sie mit ihrer Situation unzufrieden
sein, was sie nicht ist, zumindest war sie es bis vor kurzem nicht.
Sie mag ihren Beruf, ihre Kollegen, die Firma, die Musik. Sie ist
schlicht und einfach eine Einzelgängerin. Ihr Alltag ist
meistens nett, nichts Großes, doch immerhin selbstbestimmt,
abwechslungsreich und daher alles andere als
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