Wiedergaenger
Engel.
Schulterzucken.
Elektrisiert holt Liv die Zeichnungen ihres Großvaters
hervor und legt sie auf den Couchtisch, den sich zwei Katzen mit
einer Strickarbeit und mehreren Rollen Wollgarn teilen, worauf Rúnar
sie anfährt, eine spontane Beschimpfung auf Isländisch,
aber sie braucht keine Ãœbersetzung: Ihre Einmischung zu diesem
Zeitpunkt ist unerwünscht. Sein Blick, kalt und dunkel, schlitzt
sie auf. Liv erwidert ihn und begreift, wenn Rúnar von Jähzorn
und Vererbung schwadroniert, meint er nicht nur sie, sondern auch
sich selbst.
Sie fahren fort, einander anzustarren, es ist ein ungleiches
Duell, weil seine grün-schlammigen Augen mehr Macht über
sie haben als umgekehrt. Die andere Möglichkeit: Er kann sich
besser verstellen.
Gudrun Reiser murmelt etwas und verlässt den Raum, gibt ihnen
so die Gelegenheit, ihre Unstimmigkeiten auszutragen.
»Was erlaubst du dir? Merkst du eigentlich noch was?«,
eröffnet Liv.
»Das fragst du? Ich hab doch gesagt, überlass mir die
Gesprächsführung. Was ist das?« Er greift sich die
Zeichnungen und blättert sie durch. »Woher hast du die?«
»Das ist Inga Engel, gezeichnet von Tönges, so wie er
sie sich heute vorstellt. Frau Reiser soll sie sich ansehen.«
»Davon hast du mir vorher nichts erzählt.«
»Na und? Was denkst du eigentlich, wer du bist?«
»Was denkst du, wer du bist?«
Pause. Im Hintergrund das Klappern von Geschirr aus der Küche.
Das Mittagessen wird gerichtet.
Als Rúnar erneut das Wort ergreift, redet er wie zu einem
dummen Kind: Sie verstehe nicht, worum es hier geht. Jedenfalls nicht
nur um sie und Tönges,es sei kompliziert und ihr Besuch auf
jeden Fall eine Belastung für die Gastgeberin. Man müsse
behutsam vorgehen.
»Es sind doch nur Zeichnungen«, sagt Liv. »Porträts,
weiter nichts.«
»Warte es ab.«
Livs Wunsch entsprechend begutachtet Gudrun Reiser die Bilder
wenig später tatsächlich. Leider ohne Ergebnis.
»Die Frau habe ich nie gesehen«, sagt sie zu Liv
gewandt in einwandfreiem Deutsch, um gleich darauf wieder ins
Isländische zu wechseln und die Unterhaltung mit Rúnar
fortzusetzen. Eine Geduldsprobe. Das hier ist kein fremdes Land mit
einer unbekannten Sprache – es ist ein eigener Kosmos. Mit Liv
als Alien.
Dieser Eindruck verstärkt sich beim Mittagessen. Rúnar
und sie sind selbstverständlich eingeladen,Ablehnung
undenkbar.Auch der Sohn nimmt teil, gibt aber, abgesehen von einer
einsilbigen Begrüßung, kein Wort von sich. Das Schweigen
am Tisch macht auf Liv den Eindruck eines lang erprobten Rituals: Man
redet nicht, schaut nirgendwohin außer auf den eigenen Teller.
Die Tischsitten rüde. Schmatzen ist erlaubt, Nase hochziehen
ebenso.
Liv hört weg und arbeitet sich durch die Mahlzeit. Es gibt
Lamm. Eine Art Eintopf, stark versalzen, von der Konsistenz wie
Gummi, dazu Kartoffeln. Einmal rutscht Liv in ihrer Beklommenheit ein
Stück Fleisch von der Gabel, woraufhin der Sohn es aufhebt und
auf ihren Teller zurücklegt. Katzenhaare kleben daran. Damit
hätte Liv zurechtkommen können, sie hat oft genug auf
Baustellen gespeist, wo es selten keimfrei zugeht. Was ihr hingegen
Brechreiz verursacht: die warme Milch, nicht erwärmt, sondern
frisch von der Kuh, körperwarme Rohmilch, mit einem fettigen
Film überzogen und mit dem Geruch nach Kuhstall behaftet. Liv
hält das Glas in der Hand und weiß nicht, wie sie den
Inhalt hinunterbekommen soll.
Gudrun Reiser beobachtet sie. »Ich weiß genau, was Sie
denken, Mädchen, und eines kann ich Ihnen sagen: Man gewöhnt
sich an alles. Manches lernt man sogar lieben.«
Liv hält das Glas.
»Trinken Sie Ihre Milch, die wird Ihnen guttun. Die ist
besser als aus dem Supermarkt.« Diese lebendige Wärme. Der
Sohn rülpst.
Gudrun Reiser unerbittlich: »Na los, trinken Sie schon.«
»Nein, danke.« Liv stellt die Milch ab. Sie will nicht
unhöflich sein, aber es gibt Grenzen der Zumutbarkeit, auch für
sie, obschon als Alien ins Haus eingedrungen. So sieht sie das
zumindest.
»Als ich auf Fagrihvammur ankam, hielt ich mich auch für
etwas Besseres, genau wie Sie.Aber damit kommt man hier nicht weit«,
sagt Gudrun Reiser. »Ich wollte Rennfahrerin werden, können
Sie sich das vorstellen?«
»Sicher.«
»Aber das Leben lässt uns keine Wahl. Den meisten von
uns jedenfalls
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