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Wiedergaenger

Wiedergaenger

Titel: Wiedergaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Kui
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ihrer Verblüffung ist
der Laden voll, die Kundschaft überwiegend männlich: derbe
Kerle, kaum jünger als Tönges, passend zum Kaffee,
Jugendliche in Aarons Alter und zwei offenbar befreundete Familien
mit einer blonden Kinderschar, die Mütter jung, geschminkt und
aufgestylt wie für einen Diskobesuch, die Väter könnten
Mitglieder irgendwelcher Britpop- oder Indiebands sein, sind es
vermutlich. Die Atmosphäre ist fröhlich-familiär, als
würden sich alle kennen. Das anfängliche Gefühl, ein
Störfaktor zu sein, legt sich schnell, weil niemand sie
beachtet. Es ist warm,völlig überheizt, dennoch umklammert
sie aus Gewohnheit mit beiden Händen den Kaffeebecher. Die
Kinder zeichnen mit den Fingern auf den beschlagenen Scheiben:
Strichmännchen, das Haus vom Nikolaus. Ob das hier auch so
heißt?
    Als einer der älteren Männer am Nebentisch sie
anlächelt, beschließt Liv spontan, ihm ein Foto von Tönges
zu zeigen. Ja, sie weiß, das würde ihn stören, zum
Teufel damit. Der Alte ist jemand vom selben Schlag, die beiden
könnten glatt befreundet sein. Wie sich herausstellt,spricht er,
ebenso wie Tönges, kein Englisch, aber es dauert nicht lange,
bis ein Britpop-Vater sich zu ihnen gesellt, um zu übersetzen.
Im Nu sind sie umringt. Jeder will das Bild sehen, englische,
deutsche und isländische Sprachfetzen sirren durch die Luft. Ein
verschwundener Großvater, das erregt Aufsehen, da wollen alle
helfen, obschon Tönges' Gesicht ihnen völlig fremd ist.
Nacheinander schütteln sie die Köpfe, verneinen
schulterzuckend, reichen das Foto weiter. Liv durchlebt Sekunden
voller Enthusiasmus, als wäre allein die Tatsache, dass die
Imbissgäste sich für ihr Anliegen interessieren, ein gutes
Zeichen. Sie erwähnt Ragnar, den Elfenbeauftragen, der Name sagt
ihnen etwas. Was sie von ihm halten, bleibt ihre Sache.
    Der Wirt, der ihren verspäteten Hamburger und eine riesige
Portion Pommes frites an den Tisch bringt, hat im Laden dann und wann
Geschichten über Inga im Tal der Trolle gehört, wie er
sagt. Sie lebe dort draußen seit Jahren ganz allein und
verstehe sich, das sei allgemein bekannt, hervorragend aufs Stricken.
    Ob sie in den Westfjorden geboren sei?
    Nein, eine Zugereiste.
    Ein weiterer Hoffnungsschimmer.
    Â»Do you want to go there?«
    Liv bejaht.
    Es hat nicht den Anschein, als hielte der Wirt das für eine
schlüssige Idee. Sie überlegt, ihm die Zusammenhänge
zu erklären, doch sie müsste zu weit ausholen, es erscheint
ihr zu kompliziert. Stattdessen sagt sie lediglich, sie habe einen
Hinweis bekommen.
    Â»Snjór«, mischt sich der Alte vom Nebentisch
ein, der zuerst gelächelt hat, und jemand übersetzt: »Snow
. Schnee.«
    Liv kannte das Wort bereits von Rúnar.
    Der Britpop-Papa warnt vor schlechten Straßen.
    Â»It's okay«, sagt Liv. »I have a good car .«
    Â»Take care.« Der Wirt, ein Mann um die fünfzig
mit kleinen grauen Augen und schütterem Haar, harrt noch eine
Weile neben ihrem Tisch aus, bevor er zur Theke zurückgeht, was
für die anderen Gäste offenbar ein Zeichen ist, zum
Tagesgeschehen zurückzukehren. Liv beißt in ihren
Hamburger. Er ist ziemlich gut durchgebraten,an den Rändern
sogar verkokelt. Das stört sie nicht weiter.
    Nach der Rast blitzt fast so etwas auf wie Urlaubsstimmung, obwohl
die Sonne sich nun mit einem Gewand aus eisblauem Gewölk
verschleiert. Wenigstens kommt Liv mal raus, auch wenn der Grund
furchtbar und Island kein Reiseziel ist, welches sie aus freien
Stücken gewählt hätte. Sie wäre sicherlich mit
ihrem Surfboard nach Hawaii geflogen, da wollte sie immer schon mal
hin. Was sie freut: Die Straße, jetzt mit der Nummer
einundsechzig versehen und bloß noch eine Schotterpiste, führt
wieder am Meer entlang. Ein flüchtiger Kontrollblick auf die
Straßenkarte macht ihr bewusst, dass sie gerade zum ersten Mal
in ihrem Leben den Arktischen Ozean zu sehen kriegt. Das
Nordpolarmeer. Es sieht trister aus als zuvor der Atlantik, mehr grau
als blau, wegen der fehlenden Sonne, kaum Brandung, keine
Schaumkronen. Liv ist seltsam enttäuscht. Sie weiß selbst
nicht genau, was sie erwartet hat. Eisschollen vielleicht oder
Riesenwellen, irgendetwas Spektakuläres.
    Trotzdem beschließt sie, kurz anzuhalten, um ein paar
Schritte am Strand spazieren zu gehen und einen weiteren Becher
Kaffee

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