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Wiedersehen in Harry's Bar

Wiedersehen in Harry's Bar

Titel: Wiedersehen in Harry's Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Schreiber
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mich noch einmal durch die Taucherbrille an, starrte durch mich hindurch. Auf einmal fiel mir etwas Neues in ihrem Gesicht auf. Traurigkeit.
    Dann hielt sie mir Paulas iPad unter die Nase.

23
    »If There’s a Rocket Tie Me to It«
    – Snow Patrol
    Das Display war im Café zu Bruch gegangen, aber das Gerät funktionierte noch.
    Ich sah das Ding ungläubig an und spürte, wie die Welt seitlich wegrutschte.
    Auf dem Display saßen meine Mom, mein Dad und Annie auf einer Holzbank in einem fensterlosen Raum. Die Wände hinter ihnen waren schmutzig weiß, so wie Schnee im März. Es war ein sehr deutliches Bild. Die Auflösung war hervorragend. Dad hielt eine Ausgabe der New York Times in die Kamera, so dass ich das Datum von heute deutlich lesen konnte. An seinem Kinn sprossen die ersten Bartstoppeln, Moms Augen waren blutunterlaufen und ihre Nasenspitze war rot, als hätte sie geweint. Am schlimmsten sah Annie aus. Sie hatte ein schmutziges rosa T-Shirt an und ihre Lieblingshose, hatte die Arme um sich geschlungen und ihr Gesicht sah so leer aus, als hätte sie irgendwo in ihrem Kopf einen Ort gefunden, an den sie sich zurückziehen konnte und wo sie keine Angst mehr zu haben brauchte.
    »Wo sind sie?«, hörte ich mich fragen.
    Gobi schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
    »Was?«
    »Das ist Paulas iPad. Wenn ich heute Abend nicht gekommen wäre, hätte sie dich mit diesem Foto erpresst.«
    »Wieso denn?«
    »Um mich zu kriegen.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Mittel zum Zweck, Perry. Denk nach.«
    Die Sirenen waren so gut wie da.
    Ich schaute noch einmal auf das iPad.
    »Hat das Armitage getan?«
    Gobi nickte.
    »Und du hast ihn umgebracht.«
    »Es war ein Auftrag«, sagte Gobi.
    »Dein Auftrag ist mir egal! Wegen deines Auftrags ist meine Familie entführt worden!« Am liebsten hätte ich ihr das iPad ins Gesicht geworfen. »Du hast Armitage erschossen! Jetzt wissen die Bullen nicht mal, wo sie anfangen sollen zu suchen!«
    »Das ist keine Angelegenheit für die Polizei.«
    »Was?«
    Sie sah mich einfach an. »Ich muss es zu Ende bringen.«
    »Was redest du da?«
    »Kaya hat mir mehrere Ziele gegeben. Monash war das erste, dann Armitage.« Ihr Blick wandte sich von mir ab. »Ein Ziel hab ich noch.«
    »Wen denn?«
    »Du weißt es.«
    Natürlich wusste ich es. »Paula.«
    »Sie hatte recht. Das Gewehr war leergeschossen. Aber wir hatten keine Zeit mehr. Hätte ich erst nachgeladen und sie erledigt, hätten mich die anderen Schützen erwischt.«
    »Moment mal.« Ich versuchte den Rest der Beherrschung, die ich womöglich noch über mein sympathisches Nervensystem ausübte, nicht auch noch zu verlieren, denn es schien mir gegenüber inzwischen nicht mehr allzu sympathischgesinnt zu sein. »Wenn sie die Einzige ist, die weiß, wo meine Familie ist, dann muss sie am Leben bleiben.«
    Gobi hielt Paulas iPad in die Höhe, schob es in eine wasserdichte Hülle und verschloss sie. »Wir haben alles, was wir brauchen.«
    »Bist du sicher?«
    »Erst wenn wir uns das Ding genauer angesehen haben.« Sie blickte sich misstrauisch um. »Aber vorher müssen wir hier weg.«
    Sie musste mich nicht noch einmal bitten. Ich war bereits dabei, meinen Neoprenanzug anzuziehen.

24
    »Hold Your Colour«
    – Pendulum
    Noch am gleichen Abend verließen zwei Menschen Venedig in einem Eurostar-Nachtzug, ein Mann und eine Frau, die keinen Abschiedsblick für die Stadt übrig hatten. Sie reisten unter den Namen Myra Abrams und John Galt und trugen für diese Namen komplett neue Papiere bei sich, die sie, zusammen mit frischen Klamotten, einem Bahnhofsschließfach entnommen hatten.
    Vor unserer Abfahrt hatten wir uns auf dem Bahnsteig nur kurz und flüsternd unterhalten, wobei keiner den anderen angesehen hatte.
    »Woher willst du wissen, dass sie uns nicht folgen?«
    »Sie werden uns folgen.«
    »Was?«
    »Das zweite Boot dürfte sie nicht allzu lange täuschen.«
    »Und dann?«
    Sie hatte eine Aktenmappe voller Belege und Fahrpläne hervorgezogen. »Ich habe drei verschiedene Flüge vom Flughafen Venedig gebucht. Vier verschiedene Zugtickets. Zwei Mietwagen. Das alles verschafft uns ein wenig Zeit.«
    Bloß – wie viel Zeit, Gobi?
    Wie viel ist genug?
    *
    Nachdem der Schaffner die Fahrkarten kontrolliert hatte, wurde das Licht im Abteil gedimmt, und Gobi holte dasiPad aus einem wasserdichten Beutel. Inzwischen hatte sie ein weißes T-Shirt, eine Lederjacke und Jeans an, die Haare waren unter einer grünen Mao-Mütze versteckt, deren

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