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Wiedersehen in Harry's Bar

Wiedersehen in Harry's Bar

Titel: Wiedersehen in Harry's Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Schreiber
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tief nach unten gezogener Schirm ihr Gesicht erstaunlich gut verbarg. Auf den ersten Blick sah sie aus wie eine ganz normale junge Reisende, die sich die lange Nacht ein wenig vertreiben will. Ich blickte über ihre Schulter und sah die ersten CNN-Schlagzeilen zur Ermordung von George Armitage, ohne sie richtig wahrzunehmen. In weniger als einer Stunde hatte die Schockwelle weltweite Aufmerksamkeit ausgelöst. Gobi bot mir das iPad nicht an, und ich bat sie auch nicht darum, einen genaueren Blick darauf werfen zu dürfen. Ich wollte nichts von Paula berühren, das vorher nicht desinfiziert worden war. Es kam mir so verunreinigt vor wie meine Erinnerungen an sie.
    Stattdessen schaute ich auf den Ordner mit den Zugfahrkarten und den unbenutzten Tickets.
    »Wo fahren wir eigentlich hin?«
    »Zermatt.«
    »Warum?«
    Sie hielt das iPad hoch. »Dort gibt es jemanden, der uns mit dem Ding hier helfen kann. Das Bild zurückverfolgen. Deine Familie finden.«
    »Versuch bitte, die Leute nicht vorher umzubringen.«
    »Falls es nicht schon zu spät ist.«
    »Warum sollte es zu spät sein?«
    Gobi sah nicht so aus, als würde sie die Frage beantworten, aber im letzten Augenblick gab sie nach. »Armitage hat deine Familie nur festgehalten, um an mich heranzukommen. Jetzt ist er tot. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
    »Was denn? Du meinst, bevor seine Organisation beschließt,dass es sich nicht mehr lohnt, sie am Leben zu lassen?«
    Diesmal antwortete sie wirklich nicht.
    »Wie lange noch?«
    Wieder keine Antwort. Obwohl ich an dieser Stelle auch schon keine mehr erwartet hätte. »Wenn die Polizei vielleicht –«
    »Perry, ich hab’s dir doch schon gesagt.« Ihre Hand umfasste mein Handgelenk. »Dabei kann dir jetzt keine Polizei der Welt helfen.«
    »Das weißt du nicht.«
    »Willst du diesen Zug verlassen?« Sie zeigte in die dunkle italienische Landschaft hinaus, die an uns vorüberflitzte. »Willst du es beim nächsten Halt probieren? Von mir aus. Erzähle den Behörden deine Geschichte. Dann siehst du, wie weit du damit kommst.«
    »Vielleicht mach ich das auch.«
    Wir sahen uns ein paar Sekunden reglos an. Keiner sagte etwas. Dann zeigte ich auf das Bild von Armitage auf dem Display.
    »Wer war er wirklich?«
    »Ein Ziel.«
    »Was noch?«
    »Mehr nicht.«
    »Warum hat dich dieser Kerl, Kaya, angeheuert, um ihn –«
    Sie atmete zitternd aus, was ihr so gar nicht ähnlich sah. »Ich bin müde, Perry.«
    »Ach, echt? Tut mir wirklich leid, aber wenn du all diese Leute nicht umbringen würdest, würde meine Familie nicht in der Klemme stecken, deshalb finde ich, dass ich ein Recht auf eine Erklärung habe, oder etwa nicht?«
    Sie langte nach oben und schaltete das Deckenlicht aus. Wir saßen eine Weile im Dunkeln und schaukelten im Rhythmus des Zuges vor und zurück. Dann fing sie endlich an zu reden.
    »Früher einmal«, sagte Gobi, »hat Armitage Leuten geholfen, Dinge zu kaufen.«
    »Was für Dinge?«
    »Waffen.« Gobi machte eine Wischiwaschi-Handbewegung. »Er war, wie heißt das, tarpininkas … ein Vermittler?«
    »Aber warum wollte dein Kaya ihn umbringen?«
    »Böses Blut.«
    »Waren sie miteinander verwandt?«
    »Ehemalige Geschäftspartner. Haben mit denselben Randgruppen gedealt. Diktatoren aus der Dritten Welt. Afrikanischen Warlords. Haben sie mit den Waffen versorgt, die sie haben wollten. Als Armitage vor zehn Jahren seriös wurde, machte sich Kaya Sorgen um die Diskretion seines ehemaligen Partners.«
    »Und deshalb hat dich Kaya angeheuert, Armitage, Monash und Paula zu töten?«
    »Nicht angeheuert«, erwiderte Gobi.
    »Warum sagst du das immer wieder?« Ich bemühte mich, im Schlafabteil nicht übermäßig laut zu werden, was mir nicht leicht fiel. »Wenn sie dich nicht dafür bezahlten, diese Leute umzubringen, warum tust du’s dann?«
    Sie gab mir keine Antwort, auch dann nicht, als ich schließlich die Geduld verlor und sie an mich zog. Ihr Kopf fiel zur Seite, und im Licht einer vorüberhuschenden Eisenbahnbrücke sah ich, dass ihre Pupillen nach hinten gerutscht waren. Ein Anfall, und das im denkbar ungünstigstenMoment. Sie schien diese Anfälle immer in den ungünstigsten Momenten zu bekommen.
    »Gobi?« Ihre Haut fühlte sich kalt und feucht an, und als ich sie schütteln wollte, waren ihre Glieder ganz schlaff, weder die Muskeln noch die Gelenke setzten mir einen Widerstand entgegen.
    Ich berührte ihr Gesicht und spürte etwas Nasses, Klebriges.
    Zuerst hielt ich es für Schweiß. Dann

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