Wiedersehen in Harry's Bar
widerwillig wach, wobei es in ihrer Kehle heftig rasselte. Wir standen auf. Ich stützte sie und zog sie durch den Mittelgang und dann die Stufen auf den Bahnsteig hinunter, bis sie sich nach und nach selbst auf den Beinen halten konnte. Die Luft draußen war rau und kalt und roch ein wenig nach Kiefern – ein fast schmerzlich sauberer Geruch. Ich schob Gobi die Sonnenbrille vor die Augen, um so viel wie möglich von ihrem Gesicht zu verbergen, dann zog ich sie ins Tageslicht.
Die Bahnhofsuhr zeigte kurz nach sieben an. Vor demBahnhof waren die ersten Skifahrer und Touristen schon unterwegs zu den Hängen. Auf der Hauptstraße waren keine richtigen Autos, sondern nur diese kleinen Dieselfahrzeuge und Elektro-Minitaxis zu sehen, die ihre Fahrgäste an Chalets und noch geschlossenen Wintersportläden voll mit überteuerten Andenken, Postkarten und Kuckucksuhren vorbeikarrten. Ein verziertes grün-rotes, über die Straße gespanntes Banner verkündete irgendein Festival:
ClauWau-Fest!! 25. – 27. Nov.
Ich gab einem der Fahrer einen Zwanzig-Euro-Schein aus Gobis Beutel und nannte ihm das Hotel Schöneweiß.
»Wohin?« Der ergraute Mann mittleren Alters mit Golfkappe, vom Wetter gegerbten Schweinebacken, wässrigen Augen und einem Revolverheldenschnurrbart, der ihm von der Oberlippe herunterhing, starrte mich verdutzt an.
»Gibt’s ein Problem?«, fragte ich und versuchte, unbemerkt Gobis Kopf zu stützen.
»In Zermatt gibt es so ein Hotel nicht, mein Herr. «
»Das kann nicht sein.« Ich hielt ihm den Schlüssel entgegen, den ich in Gobis Beutel gefunden hatte, damit er die Aufschrift lesen konnte. »Hier, sehen Sie.«
Der Fahrer betrachtete ihn eine Weile, dann gab er uns durch Handzeichen zu verstehen, dass wir einsteigen sollten.
*
Am anderen Ende der Hauptstraße fuhr das Taxi, nachdem wir an allen anderen Gasthäusern und Läden vorbeigefahren waren, vor einer kleinen Holzfassade, die direkt in die Bergflanke gebaut zu sein schien, rechts ran. Im Schaufensterbemerkte ich die vielen eingestaubten Weinflaschen. Auf dem handgeschnitzten Schild über dem niedrigen Türbogen stand VINOTHEK – WEINE – SPIRITUOSEN.
»Sieht aus wie ein Schnapsladen«, sagte ich. Mit dem niedrigen, höhlenartigen Eingang und den rustikalen Verzierungen sah das Gebäude ganz so aus, als würde jeden Augenblick Bilbo Baggins vorbeikommen, um eine Flasche Eiswein zu kaufen. »Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind?«
Der Fahrer grunzte und zeigte nach oben auf eine noch niedrigere Fensterreihe über dem Wein- und Schnapsladen. Eine winzige, handgeschnitzte Schindel, kaum größer als ein Autokennzeichen, schaukelte quietschend im Morgenwind: Schöneweiß .
Ich warf noch einen Blick auf die dunkle Vordertür. »Wo ist die Rezeption?«
»Das Hotel Schöneweiß hat nie Gäste.«
»Hört sich ja toll an«, murmelte ich, und als ich die Hintertür aufmachte, um Gobi aus dem Taxi zu helfen, rutschte sie mir halb in die Arme. Ich konnte sie gerade noch auffangen und sah, dass sich ihr Zustand deutlich verschlechtert hatte.
Ihre halbgeschlossenen Augen waren trüb und glasig, als hätte sie vergessen, wie man blinzelt. Ihre aufgesprungenen Lippen standen einen Spalt offen, und zu diesem Zeitpunkt hätte ich nicht mehr genau sagen können, ob sie noch atmete oder nicht. Sie blutete schon wieder aus Nase und Mund, nicht viel, aber doch genug, dass ihr ein kleines Rinnsal über das Kinn lief. Ich stützte Gobi so gut ich konnte und drehte mich zum Fahrer um.
»Gibt es hier ein Krankenhaus?«
Der Fahrer warf einen Blick auf Gobi, kam zu dem Schluss, dass er seine Pflicht getan hatte, trat aufs Gas und sauste davon. Uns ließ er am Ende der Straße einfach zurück. Die Überzeugung, wieder einmal eine falsche Entscheidung getroffen zu haben – mein falsches Vertrauen in andere und in mich –, legte sich um mich wie eine jener mit Blattern infizierten Decken, die die US-Kavallerie angeblich an die Prärie-Indianer verteilt hatte. Warum hatte ich mich nicht gleich an die italienische Polizei gewandt?
Eine düstere Perry-Stimme aus meinem tiefsten Inneren verlieh meinem finstersten Misstrauen Worte: Weil sie euch sofort eingesperrt hätten und sie gestorben wäre und niemand deine Familie gefunden hätte.
Die kalte Realität dieses Gedankens durchfuhr mich wie ein stählernes Werkzeug, das auf einen blankliegenden Nerv trifft. Jede Sekunde, die ich weiterhin zögerte, jeder Moment, den ich verstreichen ließ, brachte Dad
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