Wiedersehen in Harry's Bar
262 KM.
»Mal sehen.«
40
»The Metro«
– Berlin
Am frühen Nachmittag hatten wir die Pariser Vorstädte erreicht und den Peugeot in Joinville-le-Pont auf einem Pendlerparkplatz stehen lassen. Ich kaufte zwei 24-Stunden-Bahntickets, während Gobi das Auto säuberlich blank wischte, damit an Steuerrad und Türgriffen keine Fingerabdrücke zurückblieben. Als der RER einfuhr, stiegen wir ein und suchten uns zwei Plätze ganz hinten aus.
Gobi lehnte den Kopf an meine Schulter und döste. Leute stiegen ein und aus, ohne auf uns zu achten. Draußen regnete es, große fette metallfarbene Tropfen liefen über die Scheibe, während wir an Industriegebieten, Warenhäusern und Fabriken im Speckgürtel der Stadt vorüberschaukelten. Stromleitungen stiegen und fielen vor dem Fenster wie Sinuskurven. Eine halbe Stunde später wechselten wir vom Zubringer in die Metro, und ich sah ölige Pfützen und Mülldeponien entlang der Schienen, abgestellte Möbel, verschlungene Graffiti an den Brückenbögen, die immer fetter und kunstvoller wurden, englische Worte und Hip-Hop-Slang gemischt mit französischen Sprüchen und einheimischer Ikonographie. Wenn das hier nicht Paris war, dann waren wir eindeutig in New Jersey.
»Guck mal.« Sie zeigte aus dem Fenster. »Eiffelturm.«
Ich sah das Gebilde, das sich über den braunen und weißen Dächern erhob. Bis zu diesem Augenblick war mirüberhaupt nicht richtig klar gewesen, wo wir überhaupt waren. Eine Zeitlang hätten die Gebäude von Paris die anonymen Wohnblocks jeder anderen x-beliebigen Stadt sein können, Wohnhäuser und Läden, auf deren Markisen der Regen pladderte, aber als der Zug sich in eine Hochbahn verwandelte, sah ich die Kathedralen und den Fluss, und dann waren wir auf einmal mittendrin.
»Der ist mindestens fünfzig Meter hoch«, sagte ich und versuchte, mich an den Französischunterricht in der zehnten Klasse zu erinnern. »Ich glaube, da oben gibt es sogar ein Restaurant.«
»Da wollte ich schon immer mal hin.« Gobis Stimme klang einsam und verloren.
»Zuerst in den 40/40 Club, jetzt auf den Eiffelturm.« Ein ziemlich lahmer Witz, ich merkte es selbst. »Du bist nicht gerade anspruchslos, weißt du das?«
»Ich will dort sterben.«
Ich sah sie erschrocken an. »Was?«
»Du hast mich genau verstanden.«
»Aber nicht heute.«
Sie antwortete nicht. Auch ich sagte eine ganze Weile nichts. Gobi zog das Kinn an den Brustkorb und schloss die Augen. Als sie sich wieder an meine Schulter lehnte, fiel ihr Mantel auf, und ich sah die Glock. Jeder konnte sie sehen.
»Herrgott, Gobi –« Ich wollte die Pistole zurückschieben und den Mantel wieder zuziehen, aber als meine Hand den Gurt streifte, war Gobi auf einen Schlag wieder wach, stieß mich zurück, zog die Pistole und richtete sie auf mich.
»Gobi.« Ich versuchte, betont ruhig zu klingen. »Was soll das? Runter mit dem Ding.«
Sie rührte sich nicht. Ihr Gesicht war absolut ausdruckslos, eine Alabastermaske, in der echte Augen hin und her zuckten. Ein dünnes Blutrinnsal lief aus ihrem linken Nasenloch. Ich wusste nicht, wie viele der anderen Fahrgäste mitkriegten, was sich hier abspielte, aber die uns gegenübersitzende Frau im Hosenanzug – eine Pariser Angestellte mittleren Alters, die aussah, als wäre sie unterwegs zu einem Geschäftsessen – starrte Gobi und die Glock direkt an.
»He«, sagte ich, »alles in Ordnung. Ich bin’s, Perry.« Ich hob die Hände. »Du bist nur ein bisschen durcheinander. Pack einfach die Pistole weg, ja?«
Die Leute rings um uns wurden immer panischer, sprangen von ihren Sitzen auf, einer oder zwei von ihnen kreischten, alle zogen ihre Handys und drängelten sich aus dem Waggon hinaus in den nächsten. Ich versuchte, mich von alldem nicht ablenken zu lassen und meinen ruhigen Gesichtsausdruck beizubehalten.
Das Loch am Ende des Pistolenlaufs sah so groß wie der Holland Tunnel in New York aus.
Gobi führte inzwischen Selbstgespräche, irgendwas auf Litauisch, sehr leise, ein Gestöber aus Konsonanten und Vokalen, dabei zuckten ihre Pupillen so schnell hin und her, dass es aussah, als würden die Augen in ihren Höhlen zittern. Die Anspannung und Unwirklichkeit des Augenblicks wirkten auf mich, als steckte mein Kopf in einer durchsichtigen Blase, als passierte das alles auf einer anderen, von mir losgelösten Ebene. Ich versuchte angestrengt, klar zu denken, aber Klarheit war momentan nicht leicht zu haben.
Du musst mir etwas versprechen …
»Zusane«,
Weitere Kostenlose Bücher