Wiedersehen in Stormy Meadows
wirklich wichtig ist. Es ist an der Zeit, dass ich meine Mutter wiederfinde. Bevor es zu spät ist, bevor ich noch einen Menschen verliere, der mir am Herzen liegt.
In der Brust spüre ich eine merkwürdige Enge, als trüge ich ein grausam fest geschnürtes viktorianisches Korsett. Ich brauche Trost. Also greife ich nach meinem Handy. Der Empfang ist sehr schlecht, aber als ich schließlich auf der Fensterbank sitze und den Kopf aus dem geöffneten Fenster strecke, sodass ich die kalte, klare Nachtluft auf der Haut spüre, komme ich durch. Es gibt nur einen Menschen, den ich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen kann.
»Petra? Hi, ich bin’s.«
»Nattie!« Sie freut sich, von mir zu hören. »Gut angekommen? Warum hast du nicht eher angerufen? Hab mir schon Sorgen gemacht. Wie geht’s dir denn?«
»Es ist ganz eigenartig, Petra.« Im Hintergrund höre ich Musik und dann eine Bewegung, als Petra sie leiser dreht.
»Das kann ich mir vorstellen, Süße. Und wie geht’s deiner Mutter?«
»Sie wirkt so weit okay.«
»Und dir?«
»Das hast du mich gerade schon mal gefragt.«
»Aber du hast mir nicht richtig geantwortet.«
Ich bin müde, aber ich kann nicht schlafen. Ich bin mit den einzigen Verwandten zusammen, die ich habe, aber ich fühle mich so einsam, als wäre ich mutterseelenallein. Ich möchte weinen, kann aber nicht, denn meine Tränendrüsen scheinen nicht mehr zu funktionieren. Seit dem Unfall habe ich nicht mehr geweint. Meine Augen sind gereizt, weil voller Salz, aber es kommt keine Flüssigkeit, die es herausspülen könnte. In den letzten zwanzig Monaten habe ich mich so tief in meine Arbeit vergraben, und jetzt habe ich Panik, weil ich ohne Beschäftigung hier bin. Ich bin in ein Haus zurückgekehrt, in dem ich damals ein Jahr lang meine Flucht geplant habe, weil ich es dort nicht mehr aushalten konnte.
Ich hole tief Luft. »Ganz gut«, lüge ich.
»Ehrlich?«
»Ehrlich. Ich wollte dir einfach Bescheid geben, dass wir gut angekommen sind, und mal nach dir hören. Ich rufe dich in ein paar Tagen wieder an, ja?«
»Na schön – wenn es dir wirklich gut geht …«
Ich lege mein Handy auf den Nachttisch. Warum habe ich Petra nicht einfach gestanden, wie ich mich fühle? Vielleicht, weil ich diese Gefühle nicht haben will? Und sobald ich sie einem anderen Menschen gegenüber eingestehe, werden sie noch realer, noch hartnäckiger.
Es hat keinen Sinn, ins Bett zu gehen. Ich bin so angespannt, dass ich nicht mal die Augen schließen kann. Mein Blick wandert unentwegt durch den Raum, als würde ich etwas suchen. Normalerweise arbeite ich, wenn mir so zumute ist wie jetzt. Ich schreibe dann, um meine innere Unruhe zu vertreiben.
Auf der Frisierkommode liegt eine Mappe mit Briefpapier, noch in der Zellophanhülle – eins dieser Geschenke, die man gern für andere kauft, selbst aber eigentlich nie benutzt.
Ich hole die Mappe und kehre zu meinem Platz auf der Fensterbank zurück, angelockt durch die klare Nacht, die so erfrischend ist wie ein Glas kaltes Wasser an einem heißen Tag. Ich reiße die Plastikhülle auf, nehme einen Briefbogen heraus und starre auf die leere Seite vor mir. Es gibt nur einen Menschen, mit dem ich im Moment wirklich sprechen möchte.
Ich beginne zu schreiben.
Liebster Rob,
es ist schon so unglaublich lange her, dass ich dich zum letzten Mal gesehen habe. Ohne dich ist alles so schwer, und ich bin so einsam. Ich fühle mich verloren – ganz allein in einer Welt, in der kein Platz mehr für mich ist. Ich habe mich so sehr bemüht, ohne dich weiterzumachen, ich habe mich in die Arbeit vergraben, habe ihr mehr Bedeutung beigemessen, als ihr zukommt, habe versucht, die große Lücke, die du in meinem Leben hinterlassen hast, und das klaffende Loch in meinem Herzen zu füllen. Ich liebe dich immer noch so sehr, und ich vermisse dich so furchtbar. Ich kann nicht glauben, dass ich dich nie wiedersehen werde. Ich vermisse unsere Nähe, unsere Freundschaft. Du hast mich so glücklich gemacht, ich fühlte mich so geliebt. Jetzt dagegen fühle ich mich abgestumpft, wie betäubt, von allem losgelöst und zerfallen. Ich verstehe nicht, was passiert ist, Rob. Warum es passiert ist. Warum du mir und Cassie so grausam entrissen wurdest.
Arme Cassie.
Sie vermisst dich so sehr, und ich weiß, dass sie sich genauso einsam fühlt wie ich. Mich erschreckt, dass sie so viel Wut in sich aufgestaut hat. Ich weiß, du hast immer gehofft, dass wir uns mit der Zeit näherkommen, aber seit du
Weitere Kostenlose Bücher