Wiedersehen in Virgin River
hat mir gesagt, dass sie sich manchmal davon verfolgt fühlte. Es ist schwer zu verstehen, warum eine Frau, die nichts falsch gemacht hat und misshandelt wurde, überhaupt Scham empfinden sollte. Es ist die Scham, sich überhaupt in eine solche Situation gebracht zu haben, nicht früher damit Schluss gemacht zu haben, die Scham, es zugelassen zu haben. Dabei geht es nicht darum, ob das nun richtig oder falsch ist. Es ist einfach so. Gefühle können wir nicht beurteilen. John, ich wollte, dass du darüber Bescheid weißt. Für den Fall, dass es dir einmal begegnet.“
Er schwieg eine Minute lang. Dann sagte er schließlich: „Gibt es etwas Bestimmtes, das ich tun sollte?“
„Nein“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Wenn du das Gefühl hast, es könnte ein chronisches Problem geben, wenn dir ein Verhalten auffällt, dass du nicht verstehen oder erklären kannst, dann denke einmal an eine unterstützende Beratung. Vielleicht wird bei Paige ja auch nichts dergleichen vorkommen. Ich sage es dir nur, weil es möglich wäre. Es könnte passieren und du solltest Bescheid wissen. Ich denke, du machst einfach das, was für dich völlig natürlich ist. Liebevoll sein, verzeihend, geduldig, verständnisvoll. Damals diese Nacht mit Jack? Ich hielt ihn in meinen Armen und habe ihm gesagt, dass alles in Ordnung ist.“
Wieder schwieg er eine Minute lang. „Diese Frau, deine Freundin. In diesen Momenten, wenn ihr Mann da irgendwas getan hatte … Hat sie dann aufgehört, ihn zu lieben? Vielleicht nur für kurze Zeit?“
„Nein. Mit Liebe hatte das nie etwas zu tun. Abgesehen davon, hat er ihr Leben gerettet, indem er sie in dieser reinen Weise so geliebt hat. Es hatte nur damit zu tun, dass sie wirklich einmal schlimm verletzt worden war. Ein bisschen Zeit, eine Realitätsprüfung ihrerseits, ein zuverlässiger Partner … Sie konnte es immer schaffen, wieder in die Spur zurückzufinden. Ähnlich wie bei Jack. Das Glück, gute Leute in der Nähe zu haben. Das Glück, in Sicherheit zu sein.“
Er lächelte ein wenig.
„Wenn du irgendwann das Gefühl hast, etwas könnte nicht stimmen, dann halte es nicht zu lange bei dir. Lass mich dir dabei helfen. Ich kenne mich da ein wenig aus.“ Sie sah auf ihre Uhr. „Gleich kommt eine Patientin. Ich muss gehen. Ich wollte nur mal mit dir darüber reden. Mach dir keine Gedanken“, sagte sie und glitt vom Hocker.
15. KAPITEL
W es Lassiter musste sich keiner Gerichtsverhandlung stellen. Die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung hatten sich im Vorfeld geeinigt, und Paige kam nicht zur Ruhe. Der Richter war zwar von Lassiter enttäuscht, weil dieser durch seine Anrufe bei Paige und den Versuch, Druck auf sie auszuüben, gegen die Auflagen seiner Kautionsregelung verstoßen hatte, aber letztlich schickte er den Mann nur für vierundfünfzig Tage ins Gefängnis, gab ihm fünf Jahre Bewährungszeit und zweitausend Stunden gemeinnütziger Arbeit. Dazu kam, dass er täglich an den Sitzungen der Anonymen Suchtkranken teilnehmen musste, die Schutzverfügung verschärft wurde und die Sorgerechtsregelung bestehen blieb. Und er musste direkt ins Gefängnis.
„Ich weiß, es kommt dir nicht so vor, aber du bist dabei zu gewinnen“, erklärte ihr Brie in einem Telefonat. „Er wurde an die Kandare genommen. Man wird ihm nichts mehr durchgehen lassen. Auch wenn die Gefängnisstrafe nur kurz ist, könnte es reichen, sein Verhalten zu ändern. Das Gefängnis ist hässlich. Gemein und gefährlich. Und man hört, er müsse Geld flüssigmachen, um seinen Anwalt bezahlen zu können, was wiederum bedeutet, dass du das Geld aus deiner Scheidungsvereinbarung erhältst.“
„Das ist mir egal. Das Geld interessiert mich nicht. Ich will nur vor ihm sicher sein.“
„Ich weiß“, fuhr Brie fort. „Aber objektiv gesehen, sind vierundfünfzig Tage, mit der Aussicht, dass der Richter durchdreht und ihn zu zehn Jahren verurteilt, falls er es vermasselt, besser als drei bis fünf. Wirklich.“
„Warum fühlt es sich für mich dann nicht so an?“, fragte Paige.
„Weil du Angst hast“, antwortete Brie. „Das ginge mir genauso. Aber es ist gut so. Niemand lässt ihn davonkommen. Und die Chance, dass er dich während dieser fünf Jahre Bewährungszeit anruft oder sich dir nähert und dafür dann die Hucke voll kriegt … Es ist ein starkes Abwehrmittel. Während dieser fünf Jahre könnte er sich auch tatsächlich weiterentwickeln. Ich habe zwar nicht viel Hoffnung, dass er sich in ein
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