Wiedersehen in Virgin River
gar nicht einmal Wes oder ihre Scheidung, die ihre Gedanken beschäftigten, sondern John. Der November begann regnerisch und kalt, und sie war nun schon seit mehr als zwei Monaten in Virgin River. Es gab Zeiten, da konnte sie sich ganz in der Gegenwart verlieren und war seltsam zufrieden mit dem alltäglichen Einerlei ihres Lebens, und es reichte ihr, mit ihm zusammen in der Küche zu arbeiten. Sie waren gut aufeinander abgestimmt, und das hatten sie nicht geprobt. Er hackte die Schalotten, sie schabte sie in die Schüssel. Er rieb den Käse, sie reinigte die Reibe. Sie verquirlte die Eier, er machte das Omelett. Er rührte den Teig an, sie rollte die Pasteten aus. Sie liebte es, John bei der Arbeit zuzusehen. Seine Bewegungen waren so langsam, gleichmäßig und sicher. Und wenn sie abends geschlossen hatten und noch ein wenig miteinander plauderten, empfand sie dies als Belohnung. Der Klang seiner leicht heiseren, weichen Stimme, wenn er Chris vorlas, beruhigte sie ebenso sehr wie ihren Sohn.
Sie ertappte sich bei der Vorstellung, wie es sich anfühlen mochte, in diesen starken Armen zu liegen und seine Lippen an ihrem Hals zu spüren. Sie konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie zuletzt Lust empfunden hatte. Man sollte doch meinen, dass bei so vielen Stunden, die sie fortwährend jeden Tag miteinander verbrachten, zumindest einmal irgendwelche kleineren Fehler erkennbar würden, aber sie konnte keinen einzigen entdecken. Er konnte so süß und zärtlich mit ihr sein, während er zu anderen Zeiten – zum Beispiel bei ihrer Familie in L. A. – ganz und gar als der Verfechter ihrer Sache auftrat. Hin und wieder fragte sie sich, ob sie nicht die Augen vor seinem wahren Charakter verschloss? Machte er ihr nur etwas vor, um sie an Land zu ziehen? Aber nein. An ihm war absolut gar nichts unritterlich. Und das war ja auch nicht allein ihre Meinung. Seine engsten Freunde und der ganze Ort vertrauten ihm bedingungslos.
Sie war dabei, sich in ihn zu verlieben. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor geliebt zu haben. Diese Illusion von Liebe, die sie in den ersten Tagen mit Wes erlebt hatte, kam ihr nicht einmal in den Sinn.
Manchmal fragte sie sich, ob sie nicht eine Zurückweisung in Kauf nehmen und es ihm einfach sagen sollte. Ich will für immer hier bei dir bleiben. Aber sie hatte fürchterliche Angst davor, dass er eine betroffene Miene aufsetzen und ihr in seiner geduldigen direkten Art erklären würde, dass sie für ihn nur eine gute Freundin war und er doch nur tat, was richtig war.
Sie hatte Chris am Abend gebadet und ging nach unten in die Küche. „Möchtest du ihm heute Abend vorlesen, John, oder soll ich das übernehmen?“, fragte sie ihn.
„Lass mich das machen“, antwortete er. „Ich freue mich schon darauf. Ist er fertig?“
„Quietschsauber ist er.“
Während John oben war, ging sie in die Bar, wo sie Jack fand, der den Tresen reinigte und die Gläser für den nächsten Tag aufreihte. Als sie hereinkam, verließen gerade mindestens zwei Gäste die Bar und verabschiedeten sich von Jack mit einem Winken und einem Dankeschön.
„Preacher liest vor?“, fragte Jack.
„Yup. Wenn du gehen willst, kann ich mich hier ein wenig kümmern. In ein paar Minuten wird er wieder unten sein.“
„Danke. Ist es denn in Ordnung für dich? Hier unten allein zu bleiben?“
Sie lächelte ihn an. „Ich werde die Tür abschließen. Was glaubst du, wie lange John brauchen würde, um runterzukommen, wenn ich schreie?“
„Ich schätze, du bist in guten Händen. Heute Abend ist es nass da draußen. Rick habe ich vor einer halben Stunde nach Hause geschickt.“
„Geh du nur zu deiner Frau“, lud sie ihn ein.
Sie blieb im Gastraum, und es dauerte gar nicht lange, bis John ihr dort Gesellschaft leistete. „Er ist eingeschlafen, bevor die Geschichte zu Ende war. Ich schätze, er war einfach völlig groggy.“ Er holte ein Glas aus dem Schrank. „Möchtest du heute Abend auch etwas haben?“
„Nein danke.“
„Du bist ein wenig still geworden. Und das jetzt schon seit ein paar Tagen“, stellte er fest.
Sie stützte den Ellbogen auf den Tresen und legte das Kinn in die Hand. „Ich habe viel nachgedacht. Bald werde ich geschieden sein. Das ist unglaublich. Auch wenn ich nicht weiß, was jetzt kommt.“
Er schenkte sich seinen Schlummertrunk ein. „Ich habe da etwas, das dich aufmuntern könnte“, meinte er. „Bleib sitzen.“ Er ging nach hinten in sein Apartment und kehrte
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