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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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ineinanderkreisende Menschenmenge, die sich nur langsam aufzulösen vermochte, hatte sich sogar Celestine, deren Miene kaum jemals eine Regung zeigte, vorgebeugt und fasziniert das Spektakel durch das Wagenfenster beobachtet.
    In diesem Moment, während sie Kapaunen mit Meerrettich vor sich auf den Tellern hatten, ohne davon zu essen, wohingegen sie bereits eine Flasche safranteuren Champagners geleert hatten, beobachtete Celestine eine Frau, die,
wie Friedo bemerkte, nicht allein die Blicke seiner dunkelhäutigen Begleiterin auf sich zog.
    Tatsächlich war die junge Dame von einer hinreißenden Schönheit, die alle sie Umgebenden offenbar berührte - auch ihn, der sich unwillkürlich fragte, welches Geheimnis sie hatte, das sie so unwiderstehlich machte.
    Sie saß an einem runden Tisch nahezu in der Mitte des Speisesaals, über den der prächtigste aller Lüster sein irisierendes Leuchten versprühte. Neben zwei ältlichen Paaren fiel ihm ein groß gewachsener Mann auf, dem der Adel aus allen Knopflöchern sprang. Es war Friedo sympathisch, wie dieser Mann die Schöne mit einer Liebe im Blick betrachtete, dass es die Luft zwischen ihnen in Brand setzte. Einer der älteren Herren - vielleicht ihr Vater? - schien dies mit Wohlgefallen zu bemerken und suchte das Gespräch mit ihm.
    Wie wohl Friedo sich unter diesen Leuten fühlte! Wie wenig fremd! Das freundliche Schwirren auf- und abklingender Gespräche gab ihm vor, dazuzugehören und dass alles andere sich von selbst fügen würde.
    Er zündete sich eben einen Zigarillo an, als Celestine plötzlich aufstand. Noch bevor er etwas sagen oder fragen konnte, folgte sie der schönen Fremden durch den Saal. Sie bildeten einen aberwitzigen Kontrast, aufregend und verstörend. Die Leute sahen auf, ließen das Besteck sinken, verharrten mit den Gläsern in den Händen, ohne zu trinken.
    Das Herantreten eines Hoteldieners mit einer weiteren Flasche Champagner ließ ihn geistesgegenwärtig nach der Schönen fragen. Und noch während Friedo zu hören bekam, dass es sich um die Hofschauspielerin Elsa Heuser handelte, erschien ihm vor seinem inneren Auge der liebliche Anblick
Sidonies und mit welcher Anstrengung sie in Perditas guter Stube die Schnellpost über diese Frau studiert hatte.

    Sie wünschte, sie hätte sich den zweistündigen Fußmarsch vom Mühlenberg durch die schlafenden Vorstädte zum Schwarzen Adler auferlegen können wie eine Buße. Seltsam, wie oft sie in der letzten Zeit meinte, bedauern zu müssen, dass sie ein so wenig religiöser Mensch war. Sie hätte Abbitte leisten wollen. Wegen ihrer Tat, den Lügen. Gegenüber ihrem Vater, der ein so freudiges Verständnis dafür gezeigt hatte, dass sie einer unaufschiebbaren Verabredung mit Finlay den Vorzug vor Paganini geben musste, gegenüber Elsa, deren Ratschläge so wehmütig gewesen waren, dass sie sich zum ersten Mal seit Langem als ihre jüngere Schwester gefühlt hatte. Gegenüber Finlay vor allem, von dem sie sich kaum vorzustellen wagte, was alles er, sorgenvoll und enttäuscht, vermutet haben mochte.
    Die Wirtin des Gasthauses war kaum bereit, sie einzulassen, als sie kurz nach Mitternacht die Glocke läutete. Misstrauisch lugte sie unter ihrer Nachthaube hervor und befingerte das Ende ihres über dem üppigen Busen herabhängenden Zopfes. Erst als Helene sich als Hebamme der Charité vorstellte, die Doktor Finlay Gordon eine wichtige Mitteilung über die Ausbreitung des Kindbettfiebers zu überbringen habe, öffnete sie ihr widerstrebend und führte sie zum Zimmer des schottischen Arztes.
    Seitdem stand Helene am Fenster und sah hinaus auf die Gasse, an deren Ende die Nikolaikirche ins Dunkel ragte. Hinter ihr auf dem Tisch brannte eine Kerze nieder. Sehr
wohl hatte sie den Brief gesehen, den vermutlich die Wirtin gegen einen Stapel Bücher gelehnt hatte, damit der Doktor ihn bei seiner Rückkehr gleich vorfinden würde.
    Sie setzte sich auf den einzigen Stuhl und stand wieder auf. Sie wollte nicht in der Nähe seines Bettes sitzen. Sie wartete nun schon seit einer Stunde und befand, dass es Zeit war zu gehen, denn letztlich war ohne jeden Anstand, was sie hier tat.
    Kaum, dass sie entschieden hatte, alles auf sich beruhen zu lassen, weil ihr für alles andere plötzlich die Kraft fehlte, nahm sie im Vorübergehen den Brief auf und hielt ihn gegen das Licht.
    Gerade, als sich die Tür öffnete, las sie den Absender, der quer über die linke Vorderseite des Kuverts geschrieben war.
    »Ein Brief von Mrs.

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